Tote Pracht
Geduld bat, bis er sie schließlich
vermitteln konnte — Zeit für mich hatte, studierte ich das Bild von Jess
Goodhue. Die Nachrichtensprecherin hatte ein lebhaftes, fast elfenhaftes
Gesicht mit glatten dunkelbraunen Haaren, die Stirn und Ohren frei ließen und
fast bis auf die Schultern herabfielen. Trotz ihrer jugendlichen Schönheit — die
sie wahrscheinlich als störend empfand — hatte ihr Bild eine starke
Ausstrahlung. Ihre Augen schauten geradewegs in die Kamera; ihr direkter Blick
und die Haltung ihres Mundes zeigten Entschlossenheit und Intelligenz. Obwohl
ich sie noch nicht persönlich kannte, spürte ich, daß sie eine Frau war, die
Respekt verlangte und auch bekam.
Der Mann am Empfang hatte schließlich
alle wartenden Anrufer abgefertigt und fragte nun, was er für mich tun könne.
Ich erklärte ihm, daß ich mit Goodhue
sprechen wollte, und gab ihm meine Visitenkarte. Er wählte eine Nebenstelle und
sprach ins Telefon. Dann wandte er sich wieder mir zu: »Sie möchte wissen, um
was es geht.«
Ich sagte, daß es um eine Erbschaft gehe,
die ihr ein Mandant unserer Kanzlei hinterlassen habe.
Er sprach wieder ins Telefon und legte
dann auf. »Sie sagt, sie muß noch ein paar Skripten durchsehen. Aber es sei ihr
recht, wenn Sie anschließend mit ihr sprechen wollen, während sie sich schminkt.«
»Das ist mir auch recht.«
»Gut, warum...« Er brach ab und winkte
einer jungen Frau zu, die von der Straße hereinkam und eine fettige Tüte in der
Hand hielt, in der sich, dem Aussehen und dem Geruch nach zu urteilen,
chinesisches Essen zum Mitnehmen befand. »Heh, Marge, könnten Sie dieser Dame
den Weg ins Nachrichtenzimmer zeigen und ihr sagen, wo sie Jess findet?«
Marge nickte, und ich folgte ihr. Der
Mann am Empfang drückte auf einen Knopf, und wir traten durch eine Innentür in
der Nähe seines Schreibtisches. Der Nachrichtenraum lag an einem langen Gang
hinter der ersten Tür auf der linken Seite.
Mein erster Eindruck: Lärm, Stimmen,
das Läuten von Telefonen, das Geklapper von Schreibmaschinen, das Rauschen und
Krachen des Polizeifunks. An einer Wand flirrten tonlose Bilder über ein halbes
Dutzend Fernsehmonitore. Schweigende Spektralbilder, die über Bildschirme
huschten: Woody Woodpecker, eine händeringende Serienheldin, Oprah Winfrey,
ernsthafte Erwachsene, die die Vorzüge von Babywindeln, Wachssprays und
Deodorants lobten.
»Die erste Kabine rechts von der
Regieanweisung«, sagte Marge und ging wieder auf den Gang hinaus.
Direkt vor mir befand sich ein langer
Schreibtisch auf einer Plattform. Drei Männer und eine Frau saßen dort — sie
telefonierten, kritzelten Notizen und studierten die Monitore. Ich schaute nach
rechts und entdeckte eine Reihe gleichförmiger Kabinen. Auf meinem Weg dorthin
mußte ich einer Frau ausweichen, die hinter mir durch die Tür stürmte. Sie zog
eine riesige Tasche an einem Riemen hinter sich her und warf den Leuten an der
Regieanweisung eine Siegergeste zu. In der ersten Kabine waren zwei Leute: eine
dunkelhaarige Frau, die auf einem Drehstuhl am Schreibtisch saß, und ein
großer, eckiger Mann, der über ihr aufragte und mit dem Finger erregt auf eine
Schreibmaschinenseite deutete. Ich konnte das Gesicht der Frau nicht sehen,
aber ich nahm an, daß es Jess Goodhue sei. Ich entfernte mich von der
Kabinenöffnung, lehnte mich an die Wand und betrachtete in aller Ruhe das
turbulente Treiben im Nachrichtenraum. Die Frau, mit der ich bei der
Regieanweisung fast zusammengestoßen wäre, sprach mit einem kahlköpfigen Mann.
Einen Augenblick später eilte sie zu einer Reihe kleinerer Schreibtische auf
der anderen Seite des Raumes, knallte ihre Tasche auf den Boden und zog im
Stehen Papier in eine Schreibmaschine ein. Der kahle Mann stand auf und ging zu
einer Tafel, die an der hinter ihm liegenden Wand angebracht war und mich an
die Anzeigetafel für Abflüge und Ankünfte auf Flugplätzen erinnerte. Er rieb
mit der Hand ein paar Notizen weg und schrieb dann mit einem blauen Farbstift
neue an.
Eine Stimme drang aus der Kabine — es
war die von Goodhue, nicht so sorgfältig moduliert wie während der
Nachrichtensendungen. »Nein, Marv, das muß noch mal geschrieben werden. Es ist
mir völlig schleierhaft, wie wir Barbara Bush mit Mutter Teresa vergleichen
können.«
Marv sagte etwas, das ich nicht ganz
verstehen konnte.
»Nein, ich drücke damit keine politische Meinung aus. Hier wäre sogar Babs meiner Meinung.«
Der Mann verließ ohne ein weiteres
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