Tote Stimmen
musste.
In den frühen Morgenstunden, als ich kaum noch gehen konnte, stieg ich schließlich vorsichtig die Treppe hoch und ließ mich aufs Bett fallen. Irgendwann danach schlief ich in einem Tief zwischen den Höhepunkten von Übelkeit und Panik ein.
Ich träumte von meinem Bruder Owen. Er stand in einem anderen Waldstück, und ein Schuss war zu hören, den ich in der Realität niemals gehört hatte, den es aber in Wirklichkeit gegeben hatte. Und dann war die Erinnerung wieder da an den Polizisten, der in meinem Zimmer neben mir kniete und sanft zu mir sagte, mein Bruder sei tot.
6
Freitag, 19. August
D er Tag vor zwei Jahren, als Sam Currie zur Wohnung seines Sohnes im Grindlea Estate fuhr, war ein warmer Augusttag gewesen, ganz ähnlich wie dieser. Der schiefergraue Himmel war wolkenlos, die Sonne hing im Dunst wie eine Münze, die undeutlich hinter einer Glasscheibe zu sehen ist. Currie war gereizt, als er in die Siedlung hineinfuhr. Er war ärgerlich auf Neil und auf seine Frau Linda.
Seinen Sohn hatte er zum letzten Mal vierzehn Tage zuvor gesehen, als Neil bei ihnen zu Hause vorbeigekommen war. Bei dem Besuch war es so ungemütlich und angespannt zugegangen wie immer. Currie hatte kaum seinen Abscheu über das Aussehen seines Sohnes unterdrücken können. Neils Sucht hing ihm an, ein animalischer Gestank. Er war schwach, blass und abgezehrt. Manchmal nahm Currie die Geburtstagsfotos aus der Kinderzeit heraus, dieses fröhliche, lächelnde Kind, und versuchte sich vorzustellen, was schiefgelaufen war. An manchen Tagen war er traurig und schuldbewusst, dass sein Sohn in dieser dreckigen Existenz gelandet war und von der Hand in den Mund lebte; bei anderen Gelegenheiten war er einfach wütend. In seiner Einschätzung schwankte Neil zwischen Opfer und Lump hin und her. Und entsprechend schwankte Curries Einschätzung von sich selbst.
Als Neil das letzte Mal vorbeigekommen war, hatten sie sich nichts zu sagen gehabt. Currie sah seinem Sohn in die Augen und erkannte die Zerstreutheit und die berechnenden Absichten des Süchtigen. Nichts, was Liebe glich. Aber zumindest hatte es
eine
gute Nachricht gegeben. Neil lebte zurzeit nicht mehr auf der Straße, wenn auch eine Sozialwohnung in der Grindlea-Siedlung alles andere als ideal war. Er sagte, er nehme auch kein Heroin mehr, aber man roch die Lüge förmlich. Und nachdem er an jenem Tag gegangen war, merkten sie, dass Geld und Schmuck fehlten. Linda hatte geweint. Curries Herz, das im Lauf der Jahre so oft verletzt worden war, hatte Narbengewebe gebildet, aber das seiner Frau schien immer wieder vollständig zu heilen und immer wieder bereit, sich von Neuem brechen zu lassen.
Am Abend hatten sie ein schwieriges Gespräch gehabt darüber, was zu tun sei, und kamen zu dem Entschluss, den Kontakt zu Neil abzubrechen. Er war ihr Sohn, und sie liebten ihn, aber Currie überzeugte Linda, dass es das Richtige sei. Schon nach einer Woche ohne Kontakt fing sie jedoch an, sich Sorgen zu machen. Hinter Curries Rücken rief sie Neil an, niemand nahm ab, und sie bat ihren Mann, er solle hinfahren und nachsehen, wie es ihm gehe. Zuerst weigerte er sich und sagte, ihr Sohn hätte sich auf die Anrufe hin nicht gemeldet, weil sie ihm im Moment nicht helfen könne. Eine ganze Woche lang blieb er standhaft und brach das Gespräch jedes Mal ab, wenn seine Frau das Thema ansprach. Letztendlich bettelte sie praktisch, er möge doch nach Neil sehen, und Currie gab nach.
Kochend vor Wut wegen der Zeitverschwendung fuhr er an jenem Tag in die Grindlea-Siedlung, parkte im mittleren Bereich des Hügels, ging dann die Wege zwischen den Wohnblocks entlang und suchte die Adresse seines Sohnes. Aber irgendwo zwischen dem Auto und Neils Tür spürte er ein leichtes Kribbeln am Hinterkopf. Vielleicht entsprang es später seiner Phantasie, aber er glaubte, sich deutlich daran zu erinnern.
Nichts war verändert, er konnte nicht wissen, dass etwas nicht stimmte, aber er spürte es einfach. Als er ankam, sah er, dass die Fassade des Hauses im Schatten lag, und er hatte gleich ein flaues Gefühl im Magen. Der Geruch im Garten hätte von den Mülleimern kommen können, aber er wusste sofort, dass es nicht so war.
Als er anklopfte, wurde nicht aufgemacht. Currie musste die Tür eintreten. Als sie splitterte und nach innen aufflog, schreckten auf einen Schlag Tausende von Fliegen auf und erfüllten das vordere Zimmer mit ihrem Summen. Eine Welle warmer Luft kam ihm entgegen und haftete wie Fett
Weitere Kostenlose Bücher