Tote Stimmen
mich’s noch mal versuchen.«
Ich holte den Ring wieder zu mir heran und nahm ihn genau wie vorher zuerst mit der rechten Hand und gab ihn dann nach links weiter. Ich starrte meine Faust eine Weile an, schloss dann die Augen und stellte mir vor, der Ring verbrenne mich leicht, wenn er sich auflöste. Es wurde immer schmerzhafter …
Ich danke der Academy …
… und dann öffnete ich die Augen und war zufrieden mit mir.
»Weg.«
Ich streckte die Finger der linken Hand aus, um zu zeigen, dass sie leer war.
Diesmal war Sarah beeindruckt.
»Sehr gut.« Sie tippte auf meine rechte Hand. »Und was ist mit der hier?«
Ich öffnete auch die rechte Hand. Leer.
Der Ausdruck auf ihrem Gesicht änderte sich etwas. Sie sah jetzt verwirrt und zugleich erfreut aus. Ich konnte mir vorstellen, was sie dachte: dass sie gesehen hatte, wie ich den Ring mit meiner rechten Hand aufnahm; beide Hände waren zu sehen gewesen, und die Ärmel meines Hemdes waren hochgekrempelt. Was immer ich beim ersten Mal vermasselt hatte, war geschehen, während ich den Ring hielt. Wie hatte ich das bloß gemacht?
»Das ist sehr beeindruckend.« Sie runzelte die Stirn. »Wo ist er denn?«
Ich nippte unschuldig an meinem Wein. »Er wird schon wieder auftauchen.«
Sie sah aus, als würde sie darauf bestehen, aber der Kellner rettete mich.
»Alles in Ordnung mit Ihrem Essen?«
»Wunderbar, danke.«
Ich legte meine Serviette auf den Teller, und er begann abzutragen. Sarah kniff die Augen zusammen. »Ich werde die Wahrheit aus dir herauskriegen.«
»Ist das ein Versprechen?«
»Es ist eine
Drohung
.«
»Ich freu mich drauf.«
Sie trank einen Schluck Wein. »Wie lange machst du das schon?«
»Was – Drohungen auf mich ziehen?«
»Nein, zaubern.«
»Seit meinem zwölften Lebensjahr.«
»Wie, mit einem Zauberkasten zu Weihnachten?«
Ich schüttelte den Kopf. »Es fing an, als mein Vater mich dazu kriegen wollte, einen Löffel zu verbiegen.«
Sarah lachte. »Und hast du’s geschafft?«
»Ääh – komischerweise nein. Er hatte gesehen, wie es jemand im Fernsehen machte, und ich war zu jung, um es besser zu wissen. Er war enttäuscht. Also lernte ich, wie man es macht, nur um ihm zu zeigen, dass es ein Trick war.«
»Wie verbiegt man also einen Löffel?«
»Lauter langweilige Methoden. Beim Zaubern ist es erstaunlich, was die Leute alles nicht sehen, wenn sie es nicht sehen wollen. Meine Eltern waren überzeugt, ich hätte es wirklich getan. Als sie herausfanden, dass es nicht so war, glaubten sie trotzdem weiter an den Fernseh-Futzi. Stell dir das mal vor.«
»Die Menschen sind merkwürdig.«
»Ja, wirklich.«
Die Geschichte stimmte im Grunde, allerdings hatte ich sie leicht abgemildert. Ich hatte ihr nichts von der rachsüchtigen Art und Weise gesagt, auf die ich es getan hatte, nichts von der Tatsache, dass mir damals der Versuch, den Glauben meines Vaters zu zerstören, ein grausames Vergnügen bereitete. Ich war nicht gerade stolz darauf, aber damals war ich ja erst zwölf gewesen.
Nachdem Owen starb, begeisterten sich meine Eltern für jeden New-Age-Schrott, der ihnen unterkam, und sie hatten eine besonders heftige Affäre mit dem Spiritismus. Sie wurden vollkommen andere Menschen und gingen zu Medien, die ihnen alles erzählten, was sie hören wollten: dass Owen noch existiere, dass er ihnen zulächle, dass er jetzt glücklich sei. Betrüger und Bauernfänger im Grunde, die ihnen das Geld aus der Tasche zogen und es in falsche Hoffnungen verwandelten. Ich war wütend auf sie.
Wenn ich jetzt als Erwachsener auf ihr Verhalten zurückblicke, kann ich es natürlich als das verstehen, was es war: ihre Art, mit dem unerträglichen Schmerz fertig zu werden, dass sie ein Kind verloren hatten. Gleichzeitig konnte ich aber immer noch nachvollziehen, wie ich reagiert hatte. Nicht nur hatte ich meinen älteren Bruder verloren, sondern hatte zudem das Gefühl, dass mir auch meine Eltern abhandengekommen waren. Nach seinem Tod waren sie immer viel mehr mit seinem Verlust als mit meiner Gegenwart beschäftigt gewesen. Und dass ich zurückschlug, zog sich von dem Tag an bis heute als roter Faden durch mein Leben. Jetzt war ich älter und verstand die Dinge besser, aber Einstellungen verwurzeln sich tief im Lauf der Jahre. Bis zum Tod meiner Eltern, besonders dem meines Vaters, konnte ich an ihn immer nur als jemanden denken, gegen den ich ankämpfen musste.
»Also«, sagte Sarah, »deine Fertigkeiten gehen ausschließlich auf deine
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