Tote Stimmen
nach Sachen zum Anziehen, und mir war übel.
Bleib ruhig.
Ich zog mich an, ging ins Bad, wusch mir notdürftig das Gesicht und hielt inne, um mich im Spiegel zu betrachten. Mein Gesichtsausdruck machte mir Sorgen. Zu nervös. Ich lehnte mich ans Waschbecken, die Schultern hochgezogen, und starrte mir direkt in die Augen.
An dem Nachmittag damals
, dachte ich,
ist nichts passiert
.
Du weißt nichts.
Nichts ist passiert.
Dann schaltete ich das Licht aus und ging hinunter.
10
Montag, 29. August
D as Seltsamste daran, wenn man nicht zum Schlafen kam, war Curries nicht unbeträchtlicher Erfahrung nach, wenn einem bei der Erinnerung an den Morgen zuvor klarwurde, dass man tatsächlich schon diese ganze Zeit wach war. Es kam ihm dann immer vor, als sei das alles schon vor mindestens einer Woche passiert oder vielleicht sogar jemand anderem. Kurz nach zwölf Uhr mittags betrat er den Presseraum der Abteilung und konnte es kaum glauben, dass eine vage, aber ununterbrochene Kette von Ereignissen ihn mit einem Frühstück verband, das er fast dreißig Stunden zuvor eingenommen hatte.
Und eines dieser Ereignisse kam ihm vor wie ein Alptraum, obwohl er die ganze Zeit wach gewesen war. Gestern Abend hatte er in Julie Sadlers Schlafzimmer gestanden und auf ihren kleinen ausgezehrten Körper hinuntergeblickt, während um ihn herum die Kameras der Tatortsicherung klickten.
Das Bild, wie sie dalag, verfolgte ihn immer noch, sogar mehr, als Alison Wilcox’ Anblick das getan hatte. Wie Julie Sadler den Kopf geneigt hatte, darin sah er einen Vorwurf, und in ihren ausgestreckten Fingern, die in der qualvollen Anstrengung erstarrt waren, spürte er Entrüstung. Es war, als hätte sie Vorwürfe hinausgeschrien, während sie dalag und langsam starb, und als hänge der Nachhall ihrer Worte als Herausforderung an alle, die einzutreten wagten, noch in der Luft.
Warum habt ihr mich nicht gerettet?
Warum war es niemandem so wichtig, dass er gekommen wäre?
Die Trauer, die er in dem winzigen Zimmer empfunden hatte, war überwältigend gewesen, fast schon abgrundtief. So nah war er an einem Tatort den Tränen noch nie gewesen, obwohl es keine Verstümmelung oder auch nur Blut zu sehen gab. Was diesem Mädchen angetan wurde, all den Mädchen, war ein Affront.
Currie sah sich im Presseraum um, als er hineinkam. Heute brodelte er vor Aktivität. Alle Plätze auf beiden Seiten des Mittelgangs waren besetzt, und weitere Reporter drängten sich hinten und an den Seiten vor den Bogenfenstern. Fernsehkameras ruhten auf Rollstativen oder Schultern. Auf dem glänzenden Boden schlängelte sich ein Gewirr ineinander verschlungener Kabel.
Sie haben Blut gerochen
, dachte er. Und nicht nur das des Opfers.
Swann saß schon am vorderen Tisch. Currie schritt durch die Ansammlung erregter Menschen in feindlicher Stimmung, nahm neben seinem Kollegen Platz und legte seine Notizen vor sich hin. Neben den offiziellen Mikrofonen lagen auf dem Tisch hier und da kleine, rechteckige Diktiergeräte, die aussahen, als seien sie spontan dort hingeworfen worden. Das Aufgeregte und Planlose dieses Mikrofonchaos symbolisierte alles, was er an diesen Pressekonferenzen so hasste.
»Guten Tag«, sagte er, ohne aufzusehen. »Ich bin Detective Sam Currie. Danke, dass Sie gekommen sind. Ich werde eine kurze Verlautbarung verlesen, und danach wird es Gelegenheit geben, ein paar Fragen zu stellen.«
Er hörte das rasche, zischende Klicken der Kameras, und zwei Blitzlichter leuchteten auf. Die Erinnerung an Julie Sadlers Wohnung stieg wieder in ihm auf. Schweiß trat ihm kribbelnd auf die Stirn. Er hob den Kopf.
»Um siebzehn Uhr gestern Abend«, sagte er, »wurde die Polizei zu einem Haus in der Gegend von Buxton gerufen. Als die Beamten die Wohnung betraten, entdeckten sie die Leiche einer jungen Frau. Die Todesursache ist bis dato ungeklärt. Zur Person des Opfers können wir zurzeit keine näheren Angaben machen.«
Aber das wird euch Scheißkerle ja nicht abhalten
, dachte er.
»Im Moment sind wir dabei, mit Bekannten, Freunden und der Familie der Frau zu sprechen, und verfolgen verschiedene Ermittlungsrichtungen. Wir bitten die Medien, mit uns in dieser Sache zusammenzuarbeiten, und werden so bald wie möglich weitere Informationen herausgeben. Ich gebe jetzt weiter an meinen Kollegen, Detective James Swann.« Er warf einen Seitenblick auf ihn. »James?«
Swann nickte und wandte sich an die Menge.
»Bitte stellen Sie Ihre Fragen.«
Wie vorherzusehen, hoben
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