Tote Wasser (German Edition)
hatte nicht gewollt, dass Cassie einen alten, gebrochenen Mann in ihm sah. Nun überlegte er, ob er die Idee nicht doch zu früh verworfen hatte.
Als er in Aith ankam, regnete es heftig. Er war versucht, noch einmal bei Heather anzurufen und nachzufragen, ob die Staatsanwältin mittlerweile im Büro war, doch er fürchtete, dass das bloß zu Panik führen würde. Die Sicht war so schlecht geworden, dass er einfach vor Laings Haus parkte, ohne sich groß Sorgen zu machen, ob man ihn bemerken könnte. Schließlich konnte er selbst nicht einmal mehr bis zum Ende ihres Gartens sehen, und der Hügel, auf dem die Belshaws wohnten, wurde völlig vom Dunst verschluckt. Von den Büschen und Bäumchen tropfte das Wasser. Das Auto der Staatsanwältin stand auch da, in der Einfahrt. Sie war also offenbar nicht noch ins Büro gefahren. Aber warum war sie dann nicht ans Telefon gegangen? Ihm kam der Gedanke, dass sie ja vielleicht mit ihrem Boot draußen in der Bucht war. Sie hatte bestimmt Radar an Bord, schließlich segelte sie auch große Entfernungen. Der Nebel würde ihr nichts ausmachen.
Er klopfte an die Haustür. Niemand öffnete. Dann drehte er den Türknauf und stieß die Tür auf. Sie war nicht verschlossen. Das überraschte ihn. Er hätte gedacht, dass Rhona immer abschloss, wenn sie aus dem Haus ging. Zögernd trat er ein und rief nach ihr.
Hinter der Türschwelle lag die Post. Er machte einen großen Schritt darüber und rief erneut. Keine Antwort. Jetzt ging er ins Wohnzimmer und überlegte, ob er vielleicht besser seine nassen Schuhe ausziehen sollte. Er stellte sich ihren Zorn vor, wenn er Spuren auf dem hellen Teppichboden hinterließ. Alles war sauber und aufgeräumt. Kein Hinweis darauf, dass sie Besuch gehabt hätte. Er fühlte sich an John Hendersons Haus in Hvidahus erinnert. Die gleichen glatten Oberflächen und klaren Linien. Alles zweckmäßig. Aber John hatte seinen Speicher gehabt, die Gedenkstätte für seine erste Frau. Auch Rhonas Küche war aufgeräumt. Das Einzige, was nicht ins Bild passte, war ein benutzter Kaffeebecher auf dem Abtropfgitter.
Perez blieb im Flur stehen und rief hinauf in den ersten Stock. Während er die Treppe hochstieg, wusste er nicht, wovor er mehr Angst hatte: davor, Rhona Laings Leiche zu finden, oder davor, sie lebendig anzutreffen, womöglich in ein Handtuch gewickelt, weil sie gerade aus der Dusche kam, vor Wut schäumend, dass er in ihre Privatsphäre eingedrungen war. Doch aus dem Bad, an dem er als Erstes vorbeikam, drang kein Wasserdampf, und auch die Duschtasse war trocken. Er war entsetzlich angespannt, hatte beinahe das Gefühl, ihm könnten gleich die Sinne schwinden. Vor Frans Tod hatte er nie solche körperlichen Anzeichen von Stress verspürt. Und jetzt ließen ihn sein hämmerndes Herz und das Tosen in seinen Ohren an Flucht denken. Trotzdem ging er weiter. Ein Gästezimmer, gelb und weiß eingerichtet, mit einem weißen Schaffell auf dem Boden. Brachte sie ihre vornehmen Freunde aus Edinburgh hier unter? Hatte sie überhaupt Freunde? Richtige Freunde? Er glaubte, dass sie bloß Bekanntschaften hatte, Menschen, die ihr eines Tages noch nützlich sein könnten. Das Zimmer sah aus, als hätte noch nie jemand darin übernachtet.
Dann kam Rhona Laings Schlafzimmer, und für den Bruchteil einer Sekunde überwog seine Neugier die Angst. An der Wand hing ein riesiges Ölgemälde, ein Seestück. Alles in den gleichen Farbtönen, Schwarz und Grau. Ein Sturm. Wolken und Meer und Gischt. Es war vollkommen anders als alles, was Fran je gemalt hatte, doch er wusste, dass sie es großartig gefunden hätte. Er hörte ihre Stimme in seinen Ohren. ‹Sieh nur, Jimmy, ist das nicht ein Bild, in das man direkt hineinspringen möchte?›
Mühsam riss er sich von dem Gemälde los und betrachtete das Doppelbett, in dem entweder niemand geschlafen hatte oder das Rhona gleich nach dem Aufstehen heute Morgen wieder gerichtet hatte. Die Bett- und Kopfkissenbezüge waren weiß, aus edler Baumwolle. Zwei große Kleiderschränke standen im Zimmer und eine Kommode. Die Schränke waren voller Kleidungsstücke, und er hätte unmöglich sagen können, ob etwas fehlte. Er ging weiter.
Jetzt war nur noch ein Zimmer übrig: das Arbeitszimmer. Die Tür stand einen Spalt offen, und er blieb kurz im Flur stehen und lugte hinein. Keine Leiche. Er fühlte Erleichterung und war gleich danach wieder verwirrt. Wo war sie dann bloß? War sie aufs Festland geflohen, ohne sich darum zu kümmern,
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