Tote Wasser (German Edition)
würde ihn langsam verstehen. Wieder dachte er, dass dieser Fall viel verwickelter war, als er anfänglich vermutet hatte. Aber darüber nachzugrübeln hatte er jetzt keine Zeit.
Das Nieseln draußen war mittlerweile zu einem richtigen Regen geworden, der ihm das Haar am Kopf platt drückte und seinen Kragen hinabrann, doch das bemerkte er kaum. Es kam ihm merkwürdig vor, dass nur ein paar Meilen entfernt die Welt sich ganz normal weiterdrehte. Die Leute unterhielten sich übers Wetter und über das Fernsehprogramm von gestern Abend, sie saßen in Wohnzimmern und Küchen, langweilten sich und tranken Kaffee. Hier draußen, fand Jimmy Perez, war es schwer zu glauben, dass irgendetwas je wieder ganz normal sein würde. Vor seinem inneren Auge sah er Evie Watt, jung und hübsch, ein Lächeln im Gesicht. Dann Evie Watt als Vogelscheuche in dem nachgemachten Hochzeitskleid. Sein Handy läutete. Der Empfang war miserabel, und er konnte kaum ein Wort verstehen. Er ging ein paar Schritte zurück, den Hügel hinauf, bis er eine Stelle gefunden hatte, wo der Ton klarer wurde, und dort telefonierte er einige Minuten lang, dann schaltete er das Handy aus und rannte beinahe die Straße hinunter zum Pier.
Sein Auto stand immer noch allein da. Kein Laut war zu hören außer den Geräuschen, die das Wasser machte: der Regen, der auf den steinernen Pier prasselte, und die Flut, die gegen die Hafenmauer schlug, so hoch, dass sie den Pier fast schon überspülte. Offenbar war sogar das Fischerboot jetzt verschwunden. Vielleicht waren die jungen Kerle ja inzwischen zu Hause und tranken ein Bier zusammen. Er folgte dem Pfad weiter, zu der ehemaligen Lachsfarm, dem Gebäude, das zur Trafostation werden sollte, wenn Evies großes Projekt tatsächlich realisiert wurde. Der Boden hatte sich in Matsch verwandelt, und an einer Stelle glitt Perez aus und stolperte. Als er mit der Taschenlampe zu seinen Füßen hinableuchtete, sah er mindestens zwei weitere Paar Fußspuren. Doch keine Reifenspuren. Selbst bei diesem Wetter wäre es möglich gewesen, mit einem Allradwagen hierherzugelangen, aber er fand keinen Hinweis darauf, dass jemand das versucht hätte.
Als er der Lachsfarm näher kam, spürte er, dass er nicht allein war. Da waren Stimmen. Er nahm an, dass sie aus dem Schuppen kamen. Ohne dass er es gemerkt hatte, war er dort angekommen und machte sofort die Taschenlampe aus, in der Hoffnung, dass das Licht nicht bereits durch einen Spalt in der Tür, durch die Risse in der Mauer gedrungen war. Was gesprochen wurde, konnte er nicht verstehen. Der Regen rauschte zu stark. Dann sprach auf einmal niemand mehr, und er fragte sich, ob er sich die Geräusche nur eingebildet hatte, ob seine Depression die Stimmen hervorgerufen hatte und sie nur in seinem Kopf erklungen waren und nicht hier draußen in der wirklichen Welt.
Er blieb wie angewurzelt stehen, unfähig, sich zu rühren oder einen Entschluss zu fassen. Bestimmt sah er lächerlich aus, wie er da im Regen stand. Machtlos. Und auf einmal überkam ihn diese Wut wieder, die ihn gepackt hatte, als Fran ermordet wurde, dieser Wunsch, dass jemand – egal wer – dafür bezahlen sollte. Eine blinde, verwirrende Wut.
«Jimmy, was machen Sie denn hier?» Die Stimme war wie ein Echo auf die Stimme in seinem Kopf. Derselbe verblüffte und zugleich verrückte Klang. Eine Sekunde lang gab Jimmy keine Antwort, weil er glaubte, sich die Frage nur eingebildet zu haben, so wie er geglaubt hatte, sich die Stimmen in dem Schuppen nur eingebildet zu haben.
Das Boot, dachte er in einem Anflug von Vernunft. Von wegen junge Kerle auf der Suche nach Korbreusen. Der Mörder ist natürlich mit dem Boot gekommen.
Die Stimme ertönte erneut. «Warum gehen Sie nicht einfach wieder, Jimmy? Zurück zu Ihrem Auto und in die Realität. Sie wissen doch, wie es ist, wenn Gerechtigkeit geübt werden muss.» Neben der seltsamen Empfindung, vom Rest der Welt abgeschnitten zu sein, verspürte Perez einen Triumph. Er erkannte die Stimme, und ihm wurde klar, dass er, was die Identität des Mörders betraf, richtiggelegen hatte. Er war noch immer gut in seinem Beruf. Sein Verstand funktionierte noch.
Es war ihm unmöglich zu bestimmen, aus welcher Richtung die Stimme kam. Und einen Augenblick lang war er tatsächlich versucht, der Aufforderung Folge zu leisten. Was ging ihn das alles denn eigentlich an? Er könnte in seinen Wagen steigen und zum Haus von Duncan Hunter fahren, das nur ein paar Meilen Luftlinie
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