Tote Wasser (German Edition)
entfernt lag. Er könnte Cassie in die Arme schließen und mit nach Hause nehmen, und morgen früh würden sie das erste Flugzeug Richtung Süden nehmen. Er fing sogar schon an, sich zu überlegen, wohin die Reise gehen sollte. Frans Eltern besuchen natürlich. Reizende Leute, die sich immer freuten, ihre Enkeltochter zu sehen. Er stellte sich vor, wie herzlich sie dort willkommen geheißen würden. Cassie würde heiße Schokolade bekommen und er Tee. Toast mit Honig.
Und dann hörte er ein weiteres Geräusch, einen Schrei, vom Regen halb verschluckt. Er glaubte, dass er aus dem Schuppen gekommen war, konnte es aber nicht mit Sicherheit sagen. Laut rief er: «Wo sind Sie?», und merkte, wie seine Stimme sich in der Landschaft verlor, vom Regen fortgespült wurde.
«Es wird nicht wie ein Mord aussehen.» Die Stimme des Mörders klang völlig vernünftig. «Man wird es für einen Unfall auf See halten. Sie wissen doch, wie viele Schiffe hier draußen im Sturm schon verloren gegangen sind. Und Sie wissen auch, was die Flut mit einer Leiche an dieser Stelle hier anrichtet.»
Und auf einmal konnte Perez wieder klar denken, die Eingebungen schossen ihm durch den Kopf, schnell und scharfsinnig. Das Adrenalin, vielleicht. Der Wunsch zu überleben. Nicht um seiner selbst willen, sondern weil er es Frans Tochter schuldig war. Der Mörder musste den Schuppen verlassen haben und jetzt zwischen ihm und seinem Wagen stehen; der Vorschlag, Perez solle einfach weggehen, war eine Falle. Natürlich durfte Perez nicht lebend davonkommen. Nicht jetzt, wo er wusste, wer der Mörder war.
«Rhona Laing ist eine ausgezeichnete Seglerin», sagte Perez. «Niemand würde an einen Unfall glauben. Nicht bei so einem harmlosen Wetter wie jetzt.»
«Dann eben Selbstmord», entgegnete der Mörder abfällig. «Warum auch nicht? Das ist sogar noch besser, die Leute werden denken, sie hätte Markham und Henderson umgebracht.»
Dann war alles still. Perez strengte sich an, auch noch das kleinste Geräusch wahrzunehmen. Einen Schritt oder ein Räuspern, das ihm anzeigen würde, wo der Mörder stand. Das hier war die Horrorvariante eines Blindekuhspiels. Doch der Boden war so weich, dass ein Stiefel kein Geräusch machen würde. Perez selbst hielt sich so ruhig, wie er er nur konnte. Die Flut ging nun offenbar langsam zurück, denn die Wellen schlugen nur noch gegen den Pier und spülten nicht mehr darüber hinweg. Das Meer hörte sich jetzt völlig anders an. Es gurgelte über den Kies des Strandes.
Da hörte er den Schrei wieder, lauter diesmal. Die Stimme einer Frau, und die Erinnerung an Fran, am Ufer dieses Tümpels auf Fair Isle, kam wieder hoch. Und dann, ganz in seiner Nähe, vernahm er das leise Rascheln einer Regenjacke. Er hielt den Atem an. Dachte nicht mehr nach. Der Mörder konnte ihn nicht sehen und hatte keine Ahnung, dass er Perez so nahe war. Wieder ein Geräusch. Ein Keuchen. Perez stürzte sich in die Richtung des Lauts und warf den Mörder zu Boden, nahm ihn in den Schwitzkasten, konnte fremdes Haar an seiner Stirn fühlen und fremde Haut, harte Knochen und Zähne an seiner Wange. Perez verstärkte seinen Griff und spürte, wie den Mann die Kraft verließ.
Dann wurde auf einmal alles hell. Blendend weißes Licht, sodass Perez die Augen schließen musste. Es waren nur zwei starke Taschenlampen, doch nach der undurchdringlichen Dunkelheit tat ihm der grelle Lichtstrahl weh. Und im selben Moment hörte er Willows Stimme.
«Das reicht, Jimmy. Wir übernehmen ihn jetzt.» Und dann, als er den Mann weiter im Schwitzkasten behielt, fügte sie hinzu: «Lassen Sie ihn los, Jimmy. Es reicht.»
Kapitel 46
A lso dann», sagte Sandy. «Woher wusstest du, dass Evies Vater Markham und Henderson umgebracht hat?»
Es war am Tag danach, und sie saßen in Perez’ Haus in Ravenswick. Im Kamin brannte ein Feuer, und auf dem Tisch stand wieder eine Flasche von Willow Reeves’ Whisky von den Äußeren Hebriden.
«Ich wusste es ja nicht mit Sicherheit», sagte Perez. «Nicht bis ich da unten bei der Lachsfarm von Hvidahus seine Stimme hörte.» Aber ich habe ihm nie über den Weg getraut, dachte er. Menschen, die sich ihrer Sache so sicher sind, haben mir schon immer Angst eingejagt. «Ich merkte nur, dass er alles tun würde, um seine Tochter glücklich zu machen.» Er hielt inne. Bekenntnisse abzulegen war eigentlich nicht seine Art, doch er fand, dass die beiden eine Erklärung verdient hatten. «Der Gedanke kam mir, als ich eines Abends
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