Totem des Boesen
und der nichts anderes als Tod hinterlassen würde, wenn er verschwand.
Der Adler legte die Schwingen an, stürzte der Quelle jener Wahrnehmungen entgegen. Noch ehe er auf dem Boden aufsetzte, streckte sich sein Körper, verschwand das Gefieder. Wyando fand sich vor einer hohen, weißen Mauer wieder, nackt, weil er sich seiner Kleidung entledigen mußte, wenn er die Gestalt des Adlers wählte.
Was ihm mit seinen Echos die Spur hierher gewiesen hatte, schlug mit der Gewalt von Brechern in sturmgepeitschter See über ihm zusammen und riß ihn beinahe von den Beinen, nun, da er in unmittelbarer Nähe stand!
Wyando ging unweigerlich in die Knie, um die nicht faßbare Wucht auszugleichen. Eine ewigkeitslange Sekunde brauchte er noch, um seinen Geist soweit abzuschotten, daß die Panik der anderen nicht zu seiner eigenen werden konnte. Der Arapaho verschloß sich dem Chaos und ließ es zu einer bloßen »Fährte« werden, der er folgen konnte.
Nur der Angst um sie wurde er nicht vollends Herr. Sie nagte in seiner Brust, und er hätte schon alles andere daraus vertreiben müs-sen, um sie abzustreifen - selbst sein Leben .
Wyando nahm Witterung auf. Er senkte den Blick. Von dort unten kamen die stummen Schreie, dort unten wütete das Fremde - und dort unten war sie.
Der Indianer spürte es als Beben unter seinen nackten Fußsohlen. Nicht wie das Zittern des Bodens bei einem natürlichen Erdstoß, sondern anders ... und schlimmer. Denn das Beben barg etwas, das ihm verriet, daß es die Welt in ihren Grundfesten erzittern lassen konnte - wenn es nur wollte. Und wenn man es ließ .
Wyando öffnete die eiserne Pforte in der Mauer. Quietschend schwang sie auf. Dahinter erstreckte sich ein alter Friedhof, auf dem die Verstorbenen zu früherer Zeit nicht in der Tiefe versenkt worden waren. Statt dessen hatte man die Särge zu ebener Erde ummauert, so daß tatsächlich eine »Stadt der Toten« entstanden war.
Wyando schlüpfte durch das Tor, blieb stehen, lauschte von neuem.
Ganz nah war die Quelle nun, spürbar nah.
Linkerhand ragte die bekritzelnden Mauern eines verfallenden Mausoleums auf. Davor standen Kerzen, lagen Muscheln, Stoffpuppen und Perlenkränze. Obwohl es ansonsten schmucklos war und im Vergleich zu manch anderen, prunkvoll verzierten Grabmälern geradezu unscheinbar wirkte, konnte niemand daran vorübergehen, ohne hinzusehen. Weil das Bauwerk die Blicke auf eine Weise anzog, die sich jedem Begreifen entzogen.
Und jemand, dessen Sinne so sensibel waren wie Wyandos, konnte nicht einmal vorübergehen .
Etwas von der Aura der Person, die hier im Jahre 1881 bestattet worden war, hing noch jetzt wie unsichtbarer Nebel um die schäbigen Mauern.
Marie Laveau, die bekannteste Queen des Voodoo, schien mit ihrem Tod nicht ganz von dieser Welt gegangen zu sein.
Und tief unterhalb ihres Leichnams lebte der Kult fort.
Oder etwas, das unter dem Deckmantel jenes Glaubensgebräus praktiziert wurde.
Der unsterbliche Arapaho spürte, daß unter dem uralten Mausoleum sein Ziel lag. Es galt nur noch, einen Weg dorthin zu finden.
Nur noch .
*
Lilith erwachte ...
... in einer fremden Welt.
Das Fremde selbst war ihre Welt geworden. ES hatte die alte ausgelöscht, mit seiner Präsenz verschlungen - oder wenigstens doch Barrieren zwischen Lilith und allem anderen errichtet. Unüberwindliche Barrieren aus purer Macht, zwischen denen nichts als Wahnsinn war - oder etwas Schlimmeres, für das Lilith jeder Begriff fehlte.
Und doch war es noch nicht zu Ende; war das, worin sie gefangen war, nichts anderes als eine Zwischenstation auf einer Reise, die vielleicht nie enden würde, die immer tiefer hineinführen würde in etwas, an dem ihr Geist schon ob der Fremdartigkeit zerschellen mußte - ohne indes zu vergehen. Denn es würde immer und immer wieder eine weitere Steigerung des Unvorstellbaren geben - bis in alle Ewigkeit und darüber hinaus.
Der Name dieser ersten Station war Schmerz.
Und obwohl die Qualen, die Lilith zugefügt wurden, längst die Grenze des Erträglichen hinter sich gelassen hatten, gestattete ES nicht, daß ihr Geist sich in Bewußtlosigkeit retten konnte.
Etwas wie Normalität existierte nicht in dem Fremden. Nicht einmal eine Abart davon, die anderen Gesetzen gehorchen mochte.
Lilith hatte sich selten so klar gefühlt wie in dieser Nicht-Zeit, die nicht zu messen noch zu schätzen war. Sie war einfach nur - war immer und würde immer sein.
Der Geist der Halbvampirin brannte, ohne zu verbrennen, und
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