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Toten-Welt (German Edition)

Toten-Welt (German Edition)

Titel: Toten-Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Köhler
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während sie einem der kahlköpfigen und gebisslosen alten Säcke dabei zusah, wie er mit stumpfem Zahnfleischkiefer versuchte, sich ein Stück Fleisch aus einem kaum noch zappelnden, aber durchaus lebendigen Frauenkörper in Pflegerinnen-Uniform zu reißen. Wer hätte gedacht, dass es so schnell gehen würde? Sie selbst eigentlich nicht.
    Wicca verging das Lächeln, als ihr klar wurde, wie wenig sie ihren Angriff auf die Menschheit geplant und durchüberlegt hatte. Sie war ihrem 500jährigen Drang nach Rache gefolgt. Es tat auch gut, all das hier angerichtet zu haben. Die quer stehenden und verbeulten Autos standen quer und waren verbeult wegen ihr. Andererseits hatte ihr diese Welt der Gegenwart eigentlich gefallen. Sie vermisste das Internet. Sie vermisste die Soaps der Privaten und die Vielfalt der Bezahlsender. Sie hätte gerne richtig Autofahren gelernt. Ob von ihrem alten Dorf was übrig war, das war ihr doch scheißegal.
    Sie stand ruckartig auf, als sie das begriff. Das hier war nicht mehr ihre Welt. Und sie wollte die alte Welt ja auch gar nicht wieder. Auf Hermann Klangfärber war gepfiffen nach all den Jahren. Sie verspürte einen mächtigen Drang, in die Welt der Gegenwart hinaus zu ziehen – den Drang von damals, aber verstärkt vom inneren Druck der 500 Jahre voller Sehnsucht nach Neuem.
    Beäugt von dem Greis, der seine Pflegerin nun irgendwie abgemurkst hatte, aber ohne Zähne nicht an ihr Fleisch kam, umkreiste Wicca die ineinander verkeilten Fahrzeuge auf dem Parkplatz vor dem Seniorenheim. Sie wusste, dass Zündschlüssel nötig waren. Nirgends steckte einer.
    Erfüllt vom Vorwärtsdrang der neuen Idee suchte sie das nächstliegende Auto, hastete hin, schaute, hastete weiter. Hinter dem Seniorenheim wurde sie fündig. Am Lenkrad eines Rot-Kreuz-Busses steckte ein Zündschlüssel. Der arme Hund von Krankenpfleger, der ihn hineingesteckt hatte, aber nicht mehr hatte herumdrehen können, hockte ans Vorderrad gelehnt am Boden und zuckte mit dem Oberkörper beim verzweifelten Versuch, sich hoch zu stemmen, was nicht ging, weil man ihm die Beine und Arme bis auf die Knochen abgenagt hatte.
    Wicca ließ ihn zappeln, stieg ein und betätigte die Zündung. Sie lachte laut auf vor Begeisterung und Triumph, wohl das erste Mal seit 500 Jahren aus echter Freude heraus, als der Motor sofort ansprang. Zwar hatte sie keine Ahnung, wie es nun weiter ging, aber das würde sie schon herausfinden. Schließlich hatte sie im Fernsehen oft genug Leute fahren sehen. Sie rückte ihren ledrigen Hintern im Fahrersitz zurecht, zog die Tür zu und machte sich mit den Armaturen vertraut.
     
    Der Oberst war keiner, der brüllte. Er war aber auch keiner, dem man Freundlichkeit und Einfühlungsvermögen nachsagen konnte. Hauptgefreiter Jens Niedermüller konnte ihn nicht nur nicht leiden, er misstraute ihm, denn es kam ihm so vor, als sei das gar kein Soldat, sondern jemand, der sich die Katastrophe zunutze machte, um Hauptmann von Köpenick zu spielen.
    Leider war er der einzige, dem dieser Gedanke gekommen war. Die Unteroffiziere respektierten den Oberst in seiner verpackungsneuen, noch steifen Uniform, obwohl sie ihn auch nicht kannten und noch nie von ihm gehört hatten. Niemand hatte je von ihm gehört. Angeblich war er direkt aus Berlin abgeordnet worden, um den Zivilschutz in diesem Regierungsbezirk zu übernehmen.
    Was er dann hier in dieser Provinzkaserne wollte, war Niedermüller ein Rätsel, aber letztlich war das nur ein Nebenaspekt der Hauptfrage, die er sich stellte: Was wollte er selbst überhaupt noch hier? Seine Vorgesetzten bestritten das zwar, aber offenbar war das die einzige Kaserne im ganzen Bundesland, wenn nicht gar im ganzen Staat, die noch in Betrieb war und nun autark und ganz allein auf Befehl dieses Obersten den wahnwitzigen Plan verfolgte, einen Angriff auf die übermächtige Mordbande zu starten, die im militärischen Jargon als Überträger der Kategorien I bis III betitelt worden war.
    Wie weit musste eine Armee dezimiert worden sein, damit es dem Resthäufchen, das noch begrenzt einsatzfähig war, erlaubt sein würde, ohne Ehrverlust und Gefahr von Strafe zu desertieren? War man überhaupt ein Deserteur ohne eine Regierung, einen Oberkommandierenden und eine Stabsstelle, die Tagesbefehle ausgab?
    „Soldaten, ich weiß, was ich da verlange“, schwadronierte der Oberst und klang für Niedermüller dabei wie ein Zivilist, der einen Soldaten darstellte – in einem Bauernschwank auf einer

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