Toten-Welt (German Edition)
waren bei Perversen so aussagekräftig wie Familienfotos in originalverpackten Bilderrahmen.
Mertel wollte seinen Plan bereits ändern und nach versteckten Kammern forschen oder dem Keller einen Besuch abstatten, warf aber vorher beiläufig je einen Blick in die beiden Zimmer der Jungs und ihre Schränke.
Das erste war so schreiend lebensleer wie Helferts Schlafzimmer. Auch die etwas kleinere Kammer daneben wirkte auf den ersten Blick wie die Deko eines Möbelgeschäftes.
Auf den zweiten Blick sah er etwas, das überhaupt nicht ins Bild passte. Unter dem aufgeräumten Schreibtisch schlängelte sich etwas: das Stromkabel eines Laptops. Das war die einzige Spur von echtem Leben hier oben. Im letzten Moment, bevor sie das Haus für immer verlassen hatten, ließen sie den eingetrichterten und wohl vor allem eingeprügelten Ordnungsfimmel schleifen.
Es gab also ein Laptop. Es in einer apokalyptischen Welt ohne Strom mit herumzuschleppen, machte keinen Sinn. Also war es vom Netz genommen worden, um versteckt zu werden. Irgendwo im Haus musste das Ding sein. Und wenn sich jemand die Mühe gemacht hatte, es zu verstecken, enthielt es Daten – gefährliche für den Nutzer, hilfreiche für Mertel.
Er steckte die Pistole in den Schultergurt und fing nun doch mit der Arbeit an, die ihn immer genervt hatte, aber die er nun wohl zum letzten Mal tat: Er stellte das Haus auf den Kopf.
Amelie wuchtete, argwöhnisch beobachtet von einer Horde von Wiccas Süchtigen auf den Wehrgängen, die sperrige und ziemlich schwere Aluminium-Teleskopleiter aus dem Keller unter dem Palas zum Bergfried. Manche Verstecke waren gerade deshalb unauffindbar, weil man sie direkt vor der Nase hatte und deshalb nicht als Verstecke betrachtete.
Der Bergfried, der höchste Wachturm der Burg, hatte nur einen einzigen Zugang, und der lag in rund zehn Metern Höhe – offen und unversperrt, aber unerreichbar. An der Wand des Turms war der Schatten eines Aufgangs zu erkennen, den man irgendwann abgerissen hatte. Genau gegenüber grenzte der Burgabschnitt an den Turm, in dem der Aborterker lag – und der vermauerte Wehrgang.
Man musste angesichts des verwinkelten Gemäuers um 25 Ecken denken, um von außen drauf zu kommen, wo Gänge und Räume zueinander führten oder ineinander übergingen. Jemand hatte sich viel Mühe gemacht, den Bergfried von der Burg aus unzugänglich zu machen – und Wicca wiederum hatte Amelie direkt darauf gestoßen. Warum?
Den oberen Teleskop-Abschnitt aus der Leiter zu schieben, ging noch relativ leicht. Zusammen mit dem mittleren Teil war es ein Kraftakt. Amelie schaffte es nicht ganz, aber es würde reichen, um über die Kante des Zugangs klettern zu können.
Sie nahm ihren Mut zusammen und begann mit dem Aufstieg. Ab Sprosse fünf begann die Sache wacklig zu werden, und Amelie lernte über sich, dass Höhe ihr nicht bekam. Jede weitere Sprosse wurde zur Überwindung.
In der Mitte der Leiter spürte sie den Wind kälter und heftiger blasen als im Burghof. Sie war jetzt auf Höhe der Wehrgänge und sah den Bewachern direkt in die Augen. Die Leiter begann sich durchzubiegen und zu wippen, mit jeder Sprosse immer mehr.
Am Übergang vom mittleren zum oberen Teleskopteil begann Amelie zu hyperventilieren. Sie klammerte sich fest, ließ die Leiter ausschwingen und zwang sich ruhig zu atmen.
Inzwischen sah sie, wenn sie den Kopf wendete, über die Wehrgänge hinaus und über die Baumwipfel hinweg ins Tal. Man erkannte nicht viel da unten, aber genug, um eine Bewegung wahrzunehmen. Das aus dieser Entfernung zu erkennen, konnte nur bedeuten, dass da etwas sehr Großes unterwegs war.
Amelies Neugier war nun stärker als ihre Höhenangst. Sie schaffte zwei Sprossen auf einmal, bevor die Leiter wieder so sehr wippte und schwang, dass sie innehalten musste. Das sich vorwärts wälzende Ding war in einem Wäldchen verschwunden. Der Abschnitt lag etwa auf halbem Weg zwischen der Kaserne im Tal und der Alten Wüstung auf der gegenüberliegenden Kuppe des Sattels.
Was immer sich da unten bewegte, es würde nur noch wenige Minuten brauchen, um die Kreuzung auf der Sattelmitte zu erreichen. Dann würde sich entscheiden, ob es zur Burg unterwegs war oder den Weg geradeaus nehmen und wieder bergab Richtung Stadt verschwinden würde.
Amelie zog sich eine weitere Sprosse hoch. Noch ein Meter bis zum Einstieg in den Bergfried. Wieder verharrte sie, schnaufte sich aus und sammelte Mut für die nächste Sprosse.
Schräg unter sich sah
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