Toten-Welt (German Edition)
innerlich tot. Und doch war sie weiter gefangen in einem äußerlich funktionierenden Körper. Sie fühlte sich so müde. Sie hatte das alles so satt.
Mit je einem Seitenblick streifte sie ihre Bewacher, Helfert und den Gnom, entschränkte ihre Beine und stieß sich vom Brunnen ab.
Der Befehl kam augenblicklich: Haltet Sie!
Neuminingen hockte mit dem Rücken zu ihr. Aber sein lose um ihn herumschwirrendes, wenn auch fest mit dem mumifizierten Körper verzurrtes Bewusstsein hatte eine bestimmte Blickrichtung nicht nötig.
Aus dem Chaos der höllischen Fressorgie auf dem Marktplatz erhoben sich sofort auch drei andere Befehlsempfänger. Wicca erkannte in den in Blut gebadeten Fratzen die Gesichter des einstigen Oberbürgermeisters dieser Stadt und seiner Chefsekretärin, einer gewissen Irene Bomhan. Dieses unglaublich sture, völlig in sich selbst verkapselte Weib war zwei Tage vor der Apokalypse in ihrer Stadtpraxis aufgetaucht, hatte ein Mittel gegen ihre Fresssucht verlangt, es misstrauisch bis zum Gehtnichtmehr erklärt haben wollen und es dann doch nicht genommen. Wegen ihr war sie fast aufgeflogen, das einzige Mal.
Frieda Berger hatte die angedrohte Anzeige der Kurpfuscherei verhindert durch eine plappermäulige Nettigkeit, der die Bomhan dann doch erlegen war, aber nicht so weit, das Mittel zu probieren. Frieda war auch hier, hatte ihre Abneigung, zum Raubtier zu werden, überwunden, sich erstmals richtig sattgefressen und kam nun als Fünfte hinzu.
Wicca sah hasserfüllte Blicke aufeinandertreffen: von der Bomhan zum Gnom, von Helfert zum Gnom und zurück, vom OB zur Bomhan, von Frieda zu Helfert. Und doch gingen sie nicht aufeinander los, sondern wirkten zusammen wie von einem Strang gezogen, stürzten sich auf diejenige, die sie erschaffen hatte, packten sie und setzten sie fest. Helfert, ausgerechnet er, wurde losgeschickt, nach einer Dauerlösung zu suchen, während die vier anderen durch ihre bloße zahlenmäßige Überlegenheit ein Wesen bändigten, das eigentlich nicht zu bändigen war. Wicca war unzerstörbar und überdauerte alles, aber sie hatte einen Schwachpunkt, man konnte sie außer Gefecht setzen: packen und niederdrücken, fesseln; einmauern.
Diesen Schwachpunkt, roher Gewalt nichts entgegensetzen zu können, hatte sie immer gekannt und hatte nach 500 Jahren Lehrzeit geglaubt, damit umgehen zu können und sich nie mehr fangen zu lassen.
Nun erkannte sie ihren zweiten Schwachpunkt: Man konnte sie benutzen. Man hatte es bereits getan. Das alles war ihr Werk, aber nur vordergründig ihr freier Wille gewesen. Den höheren Plan, der dahinterstand, begriff sie jetzt endlich.
Stumm und ohne Widerstand zu leisten verharrte sie im Griff und unter dem Gewicht ihrer vier zu Feinden gewordenen Geschöpfe, sah das Gemetzel an den letzten Menschen dieser Stadt mit unverminderter Härte weitergehen und aus Richtung Rathaus schließlich Helfert wieder herbei wanken. In Neuminingens Kerker hatte er gefunden, was ihm aufgetragen worden war zu suchen: eiserne Handfesseln, eiserne Fußfesseln, eine Mundbirne. Zwangsgeräte aus ihrer Zeit, Wicca kannte sie nur zu gut. Foltern konnte man sie längst nicht mehr. Bändigen ja, aber auch nicht für immer.
Sie wusste jetzt, worum es ging.
Und sie würde einen Weg finden, es zu unterbinden.
Amelie hatte vorgehabt, die Frühstückspause abzuwarten. Ganz sicher würden nicht alle gleichzeitig zum Essenfassen antreten, es würde Wachen geben. Aber sie kannte sich hier aus, die nicht. Sie würde über Schleichwege einen der Säle erreichen, der Gruppe als Ganzes gegenübertreten und sich dem Schutz des Befehlshabers anvertrauen – sofern er nicht der Hermann Klangfärber war, den sie kannte.
Aber wieso erwartete sie eigentlich, dass eine Art auf die Burg verlegtes Kasernenfrühstück mit Essensausgabe und gemeinsamer Nahrungsaufnahme stattfand? Das war ein Klischee.
Dennoch war irgendwann der Moment erreicht, in dem die hektische Betriebsamkeit, die seit einer Stunde von unten her zu ihr heraufklang, nachließ und zur Ruhe kam. Unverständliche Befehle wurden durch die Burg gebrüllt. Es klang nach Antreten.
Es wurde ruhig. Und dann begann einer zu sprechen. Amelie hörte den monotonen Singsang seiner Stimme, aber verstand kein Wort. Wie magisch angezogen verließ sie ihren Standort im Eingangsbereich zu Wiccas Praxis, schlich den Gang entlang in Richtung der Stimme, die steinerne Wendeltreppe hinab in den ersten Stock und zum umlaufenden Wehrgang, der
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