Toten-Welt (German Edition)
atmete tief ein und aus und schob dann ihren Kopf über die Brüstung.
Der Moment war ideal gewählt. Das Publikum war mit sich selbst beschäftigt, und die Männer auf dem Torturm mit dem Publikum.
„Nicht alle gleichzeitig! Bitte Ruhe!“
Auf dem Torturm standen vier Uniformierte und ein Zivilist. Aus dem Publikum rief jemand:
„Jens Niedermüller!“
„Wer ist das?“
Einer der Soldaten im Publikum hob den Arm.
„Treten Sie zur Wahl an? Dann kommen Sie zu uns hoch.“
Das Publikum schien sich wieder zu beruhigen. Der junge Mann namens Niedermüller drängte aus dem Publikum zum Turm, nahm die ersten Stufen der Treppe, kam Sekunden später oben auf der Aussichtsplattform an und mischte sich unter die Versammelten.
„Weitere Vorschläge?“
Das war wieder der hochgewachsene Uniformträger, der die ganze Zeit das Wort geführt hatte. Amelie erkannte seine Stimme als die des Sprechers und jetzt auch, als sie sein Gesicht und seine Körperhaltung sah, als die eines anderen. Lautstärke und Hall in dieser Burghof-Szenerie über der rund hundertköpfigen Menschenmenge hatten ihn anders klingen lassen.
Aber er war es.
Amelie duckte sich wieder unter die Brüstung.
Er war es. Der verdammte Scheißkerl war hier. Und das war ein derart unmöglicher Zufall, dass sie jetzt keinen Zweifel mehr hatte: Dieser Hermann Klangfärber, der da unten sprach und sich zum Anführer der letzten lebenden Menschen wählen lassen wollte, war nicht nur der Drecksack, der sie selbst ins Verderben geführt hatte, sondern mit Sicherheit auch der aus Wiccas Vorleben als frühneuzeitliche Heilerin.
Ganz bewusst hatte die alte Hexe ihre Erzählung an jenem Punkt nach ihrer Verbrennung unterbrochen. Irgendwas musste danach noch passiert sein, etwas Einschneidendes, das bis in die Gegenwart wirkte und einen Zusammenhang zwischen ihnen dreien herstellte. Sie wollte wissen, was es war, und um es zu erfahren, blieb ihr nur eins: Sie musste in die Offensive gehen.
Amelie schluckte ihre Angst runter, räusperte sich den Hals frei, wartete auf eine Pause des Sprechers, und die kam, als er verkündete:
„Dann schreiten wir jetzt zur Wahl.“
Amelie stand auf, beugte sich über die Brüstung und rief so laut, dass sie selbst erschrak:
„Es gibt noch einen Kandidaten. Und zwar mich.“
„Gefällt Ihnen Ihr neues Dasein, meine Liebe?“
Wicca hockte auf einem Gehsteig am Stadtrand und klimperte mit ihren Fesseln. Helfert hatte sich nicht damit begnügt, sie in Hand- und Fußeisen zu legen, sondern durch beide Teile Ketten geschlungen, damit einen Laternenmast umwickelt und die losen Enden mit einem Schloss in der Größe einer Männerfaust gesichert.
Alles nur Show, um sich selbst als großer Rächer fühlen zu können. Er und der Gnom hatten sich wieder ins Getümmel gestürzt, das sich inzwischen von der Innenstadt an den Burgberg verlagert hatte und in Richtung Alte Wüstung weiterschob. Der Hauptschwarm schwirrte um Neuminingen wie Bienen um ihre Königin und ließ seinen Standort jederzeit erkennen. Rund hundert Meter weiter und umtobt von seinen Legionen, hatte er Wicca aus dem Blickfeld verloren, zumal er sie sicher verpackt und ausreichend bewacht wähnte.
Aber Helfert scherte sich nicht um Befehle, wenn der Befehlshaber außer Sicht geriet. Und so hockten vor Wicca auf der Straße lediglich Frieda Berger und Irene Bomhan und balgten sich um einen Kadaver. Da sie keine direkt angesprochen hatte, wussten sie nicht, wer gemeint war, und hielten verwirrt inne.
„Ist doch toll, sich so gehen lassen zu können. In Ihrem alten Leben war alles nur Disziplin und Zukunftsangst, hab ich nicht recht?“
Frieda kroch einen Meter auf Wicca zu, knurrte und zeigte ihre blutverschmierten Zähne. Ihre Denkfähigkeit war lange schon verkümmert und drehte sich nur noch ums Fressen, solange sie unbehelligt blieb, und um Angriff, wenn ihr etwas in die Quere kam. Aber sie hatte ein Restgespür für Spott behalten und verfiel nun allzu leicht in ungezügelte Wut.
Sie begriff, was passiert war und wie es sie verändert hatte und dass diese Irene Bomhan, mit der zusammen sie Wicca bewachen sollte, bei weitem nicht so eingeschränkt war wie sie selbst, sogar noch sprechen und ganze Sätze bilden konnte, obwohl man der in den Kopf geschossen hatte. Vor allem aber begriff sie, dass Wicca an allem schuld war und sich jetzt auch noch über sie lustig machte.
„Wissen Sie noch, wie es war, ein denkender und atmender Mensch zu sein?“, fragte
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