Toten-Welt (German Edition)
Kilometern Entfernung deutlich zu erkennen. Sie konnte es kaum erwarten, sich die Sache von innen anzuschauen und damit prahlen zu können, die Erste am Schicksalsort gewesen zu sein.
Voll Tatendrang, stolz auf ihre uneigennützige Hilfsbereitschaft und vibrierend vor Sensationslust griff Frau Pfeifer nach ihrer Handtasche und verließ ihre Wohnung.
„Der da.“
„Ich sehe keinen Unterschied.“
„Schauen Sie genau hin.“
Amelie schaute sich den Mann von Kopf bis Fuß an. Sie und Wicca saßen so nah neben ihm, dass sie im Gegenlicht seine Nasenhaare sehen konnte.
„Warum tun Sie das überhaupt?“
„Das spielt keine Rolle.“
„Ich will es aber wissen!“
„Sie sollen es erfahren, Schätzchen, aber erst lernen Sie unsere Leute vom Rest der Menschheit zu unterscheiden. Das ist wichtig. Also.“
Amelie brummte genervt und konzentrierte sich.
„Er sieht schon irgendwie fahl aus. Weil er tot ist, oder?“
„Das ist es nicht.“
„Aber er ist doch tot? Und ich bin es auch.“
„Ihre Freundin Frieda, die ist es.“
„Der muss doch merken, dass wir ihn belauern.“
„Natürlich. Er kennt mich ja. Aber er weiß, dass er sich in der Öffentlichkeit nichts anmerken lassen darf.“
Der Mann winkte zum Bezahlen. Für einen Moment, als der Kellner neben ihn trat, streifte sein Blick den von Amelie.
„Es sind seine Augen. Die sind unterschiedlich. Vielleicht durch die Tropfen. Ihre übrigens auch. Bei Ihnen ist es mir schon am ersten Tag aufgefallen.“
„Sehr gut, Schätzchen. Achten Sie ab jetzt immer darauf.“
„Gibt es denn schon so viele?“
„Ein paar tausend Lebende, verstreut übers ganze Land. Und immer mehr wiederauferstandene Tote, weil ich mir meine Lebenden in der Regel schon so aussuche, dass sie nicht mehr lang zu leben haben.“
„Aber das kann doch nicht sein!“, rief Amelie verblüfft.
„Warum denn nicht?“
„Wenn ständig Tausende von Leuten die Burg besucht hätten, um sich ihre Tropfen abzuholen, dann wüsste ich das doch.“
„Die Regelung ist ganz neu. Bisher war es noch zu schaffen, die Leute zu besuchen oder in die Praxen zu bestellen, aber dafür sind es bald zu viele.“
Amelie schaute sie ungläubig an. Wicca lächelte freundlich, tätschelte ihr Handgelenk und erklärte:
„Natürlich hatte ich nicht zu allen jeden Tag persönlichen Kontakt. Und in Zukunft werden auch nicht alle auf die Burg kommen, langfristig sowieso nicht. Dafür habe ich ja das Schneeballsystem: Einer bekommt die Tropfen für hundert Leute in zehn Einheiten je zehn.“
„Schneeballsysteme funktionieren aber doch eigentlich nicht.“
„Nicht auf Dauer, da haben Sie recht.“
„Und wie soll das dann weitergehen? Was, wenn die Übermittler die Tropfen für sich selbst behalten?“
„Das wird vorkommen. Und irgendwann läuft sowieso alles aus dem Ruder. Aber vielleicht ist bis dahin schon der Punkt erreicht, an dem das Gesamtkonstrukt zusammenbricht. Ich sehe den Umkehrpunkt sehr nah.“
„Welches Konstrukt? Die Gesellschaft?“
„Ganz genau. Menschliches Miteinander, Versorgung mit Lebensmitteln, öffentliche Ordnung, Verwaltungsstrukturen...“
„Sie wollen einfach nur Chaos stiften?“
„Was ich will, Schätzchen, ist ein Denkzettel für eine Menschheit, die nichts anderes im Kopf hat als Geldgier, religiösen Fanatismus und Krieg.“
Amelie bemerkte, dass der Kellner zum wiederholten Mal einen großen Bogen um ihren Tisch machte. Nicht, dass sie etwas hätte bestellen wollen, aber...
„Gehört der auch dazu?“
„Gehören Sie denn dazu?“
„Ich glaube, Sie lügen. Es geht nicht um Läuterung der Menschheit, sondern um Rache. Sie wurden als Hexe verbrannt.“
„Und als ich mich davon erholt hatte, hat man mich eingemauert. 500 endlos lange Jahre hockte ich in einem scheißengen Drecksloch ohne Licht und Wärme. Bis vor einigen Monaten.“
„Und wer hat Sie rausgelassen?“
„Raubgräber.“
„Das ist doch Blödsinn!“
„Wo sich unterirdische Gewölbe auftun, werden auch Schätze vermutet.“
„Was ist aus diesen Raubgräbern geworden? Haben die Sie bemerkt?“
„Es war nur einer. Und ja, der war ganz schön erstaunt.“
Wicca lächelte spitzbübisch, und plötzlich ging Amelie ein Licht auf.
„Bergenstroh? Diese Kerker – waren unter seiner Burg?“
„Dort sind sie noch.“
„Dann haben Sie ihn zum Krüppel gemacht? Damit er Sie nicht verrät?“
„Jetzt überschätzen Sie mich. Seine Krankheit war zu diesem Zeitpunkt schon
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