Toten-Welt (German Edition)
und die übertraf in ihrer Wucht und Befehlsgewalt ihre bisherige Medikamentenabhängigkeit bei weitem. Hier war sie nicht zu stillen. Sie musste hinaus, unter Menschen. Tun, was Wicca ihr befohlen hatte. Sie sollte und musste es nicht nur, inzwischen wollte sie es auch.
Bergenstroh hockte in seinem Rollstuhl wie eine zu lange gegrillte Wurst. Alles Plastik an dem fahrbaren Untersatz war abgeschmolzen, zu Boden getropft und teils mit dem verbrannten Körper verbacken. Rings um das verloschene Feuer war der Holzboden verkohlt. Die Wände und Decken im Raum waren von einer klebrigen Rußschicht bedeckt, auch die Fenster.
Es stank genauso wie es aussah. Das war der beherrschende Eindruck für Amelie und lenkte sie von allem anderen ab. Ihr Geruchssinn war wie ausgeknipst gewesen, seit ihr neues Leben begonnen hatte. Er mochte wohl vorhanden gewesen sein, aber hatte keine Rolle gespielt. Nun dominierte er alle anderen Sinne und ließ sie erschnuppern, was hier passiert war, bevor sie es mit den Augen erfasst und dem Verstand verarbeitet hatte. Und sie roch auch, dass es noch nicht vorbei war.
„Verdammter Vollidiot!“, fluchte Wicca, verpasste dem Rollstuhl einen Tritt und schüttelte empört den Kopf, als das ehemalige Gefährt weder wegrollte noch umfiel, sondern, zusammengekokelt mit dem Boden, unter der wuchtigen Attacke lediglich erzitterte und steif stehenblieb.
„Ich sollte dich so hocken lassen bis in alle Ewigkeit.“
Bergenstrohs Körper blieb wie in Asche erstarrt, aber Amelie spürte, dass sich in ihm etwas regte, nach Hilfe schrie und vor Angst halb wahnsinnig wurde bei dem Gedanken, die Drohung könnte wahr gemacht werden.
„Aber ich weiß was Besseres...“
Wicca tastete nach einer Reißverschlusstasche ihrer Multifunktionshose, die sie bisher noch nicht geöffnet hatte. Das Mittel für Helfert und die Jungs hatte sie aus einer Seitentasche in Hüfthöhe gezogen. Nun griff sie in einen Schlitz in Kniehöhe, zog ein Fläschchen hervor, das nicht zu unterscheiden war von allen anderen und ebensowenig beschriftet, wog es in der Hand, steckte es zurück und griff noch tiefer, in eine Tasche in Wadenhöhe.
Amelie fragte sich, wie sie an dem verkohlten Kopf noch Augen zum Träufeln finden wollte und ob überhaupt noch welche vorhanden waren. Aber Wicca fummelte den Plastikstopfen für die Tropfenfunktion herunter, schüttete sich den Inhalt in die hohle Hand, warf das Fläschchen in die Ecke und verrieb die Essenz in einer Art, als würde sie sich die Hände einseifen.
„Du bekommst eine Woche, Freundchen. Du wirst die Sauerei hier aufräumen, dafür hast du den ersten Tag. Und dann machst du verdammt noch mal endlich das, wofür ich dich überhaupt am Leben gelassen habe. Ist das klar?!“
Sie steckte ihre Hand dorthin, wo der Mund zu vermuten war, und schien Zunge und Gaumen abzutasten, einzureiben und dann weiter bis in den Schlund zu fassen.
Dann betupfte sie, am Kopf beginnend, mit flachen Händen Bergenstrohs Körper.
„So habe ich auch mal ausgesehen“, sagte sie sanft. Sie hatte wie zu sich selbst gesprochen, aber Amelie gemeint, und der schien es, als klang auch ein wenig Mitleid für Bergenstroh an. „Bei mir kam die Heilung allerdings von innen heraus.“
Sie war bei seinen Füßen angekommen und beendete ihr Ritual.
„Lassen wir ihn allein. Es wird eine Weile dauern.“
Hubert Helfert war in seinem Element. Beim Belauern und Verfolgen, im Moment unmittelbar vor dem ersten Biss, er fühlte sich dabei wie ein geschmeidiges Raubtier auf der Pirsch. Und dabei musste er nicht mal Angst vor Entdeckung, Verfolgung, Verhandlung und Gefängnis haben.
Denn seine Opfer wurden – wie er.
Es entstanden keine leblosen Opfer, sondern neue Täter, die es gar nicht erwarten konnten, weitere Täter in die Welt zu setzen.
Schon zwei mal an diesem Tag hatte er das Wunder der Verwandlung miterlebt und gierte jetzt nach dem dritten Mal. Friedas Rückkehr ins Leben hatte er nicht richtig genießen können, sie kam unerwartet und zu schnell. Bei seinem zweiten Opfer des Tages, einer Supermarkt-Kassiererin, war das anders gewesen. Er hatte gewusst, was kommen würde, und sich keine Sekunde davon entgehen lassen.
Das dritte Mal wollte er dokumentieren. Er hatte keine Lust, erst nach Hause zurückzukehren und seine eigene Kamera zu holen. Also brach er zehn Minuten nach Ladenschluss in ein Elektronikgeschäft ein und nahm sich den Inhaber vor, der gerade die Tageseinnahmen in eine Geldbombe
Weitere Kostenlose Bücher