Toten-Welt (German Edition)
Beschäftigungen interessiert: ihrer Arbeit und dem abendlichen Fernsehprogramm. Für beides konnte sie 75 Kilo wiegen und auch deutlich mehr. Und wen hätte es schon gekümmert, wenn sie nicht nur dick wurde, sondern krank und bettlägerig und irgendwann eine verwesende Leiche vor dem laufenden Fernseher? Niemanden. Ihr Job würde schnell wieder vergeben sein. Sie bereute, dass sie keine Pralinenschachtel zum Sekt gekauft hatte und nahm sich diesen Genuss für den nächsten Abend vor.
Das war kurz bevor ihr klar wurde, dass sie ihren letzten Fernsehabend bereits hinter sich hatte und ihre Sektflasche ungeleert bleiben würde.
Als Amelie ihn diesmal sah, wusste sie, es war kein Geist. Ronan Bergenstroh war wieder jung. Er war gesund. Und als er sie schüchtern anlächelte und die Hand zum Gruß hob, wusste sie, er war ein anderer und auf einer Ebene vollständiger, die sie nicht benennen konnte. Was sie bisher von ihm gekannt hatte, war der fiese Teilaspekt, der in jedem Menschen schlummerte, meist unterdrückt und vertuscht wurde und niemals derart in Reinform vorkam wie bei der Rollstuhlversion des Mannes, der jetzt vor ihr stand.
„Wenn Sie Wicca suchen...“
„Nein. Ja, aber...“
„Überrascht es Sie, mich so zu sehen?“
Er trug Turnschuhe, Jeans und ein Sweatshirt und war damit beschäftigt, die verkohlten Trümmer seines Rollstuhls auf eine Schubkarre zu laden.
„Wir sind uns doch schon mal begegnet.“
„Ja, aber da konnte ich mich nicht zu erkennen geben. Sie wussten noch nicht, was hier vorgeht.“
„Ehrlich gesagt, weiß ich das immer noch nicht. Das ist doch Irrsinn!“
Amelie wurde urplötzlich wütend und staunte darüber.
„Was?“
„Sie hat die Macht, aus einem bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Untoten wieder einen gesunden Menschen zu machen.“
„Die hat sie durch ihr Gebräu. Sie selbst, na ja...“
„Aber statt das Mittel zum Wohle der Menschheit einzusetzen, will sie Chaos stiften und alles zerstören.“
„Zum Wohle der Menschheit, Sie sind gut!“
„Wieso denn?“
Er grinste amüsiert und wurde plötzlich ernst. Mit zwei Schritten war er dicht vor ihr. Sie wich zurück und senkte den Blick.
„Zeigen Sie mal Ihre Augen.“
Sie wollte ihr Gesicht mit der Hand bedecken, aber er hielt sie fest und sah sie prüfend an. Sofort erkannte sie die seltsam schimmernde Ungleichheit seiner Pupillen.
„Da stimmt doch was nicht!“
Es klang empört, aber sein Blick war freudig überrascht.
„Bitte sagen Sie ihr nichts. Ich weiß auch nicht, vielleicht liegt es an meinen Kontaktlinsen. Das Mittel scheint bei mir nicht dauerhaft zu wirken.“
„Oder es wirkt ganz anders. Oder sie gibt jedem das Mittel in einer Form, dass es so wirkt, wie sie es haben will.“
„Ich verstehe nicht, was sie überhaupt vorhat. Was bringt ihr das denn, dieser immense Aufwand. Was hat sie davon?“
„Was soll sie denn sonst machen?“
„Was sie sonst machen soll?! Sich ein sinnvolles Leben aufbauen zum Beispiel, ich meine...“
„Ein Leben?! Die hat 500 Jahre lang in einem Loch tief unter der Erde vegetiert. Für sie hat unsere Welt nichts mit ihrer zu tun, was soll sie sich denn hier aufbauen? Soll sie sich etwa einen Job suchen? Oder eine Familie gründen? Sie hat ja nicht mal ne gültige Existenz, keine Geburtsurkunde, keine Sozialversicherungsnummer, keine Ausbildung, nichts. Es gibt sie nicht. Wenn sie in Erscheinung tritt, landet sie in irgendeinem Gewahrsam oder Forschungslabor. Und das ist das einzige, wovor sie Angst hat.“
„Durch ihre ganzen Aktivitäten tritt sie aber doch ständig in Erscheinung. Irgendwann kommen sie ihr auf die Schliche.“
„Und wenn nicht? Das Risiko ist gering. Nehmen Sie an, Sie würden in einer Welt landen, die Ihnen nichts bedeutet oder die Sie gar hassen. Sie sind völlig fremd, kennen niemanden, werden sich nie an die Zustände gewöhnen – aber wären verdammt dazu, ewig zu leben. Würden Sie Ihre Kräfte dann nicht auch dafür einsetzen, die früher gewohnte Welt neu erstehen zu lassen? Genau das macht sie, auch wenn es ihr vielleicht selbst gar nicht klar ist: Sie schafft sich eine Welt, in der sie sich wohlfühlt und eine Zukunft hat. Auf Kosten unserer Welt, aber das ist ihr ja völlig egal.“
„Und was soll das für eine Welt sein?“
„In der man Freundschaften nicht umsonst schließt. Zum Beispiel. Mal angenommen, sie mag Sie...“
„Ganz bestimmt nicht!“
„Und wenn doch? In 60 Jahren sind Sie tot, aber sie wird
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