Toten-Welt (German Edition)
Er?“
Sie betrachtete das glatte, bartlose Gesicht mit den langen Wimpern und schüttelte den Kopf. Hermann sagte:
„Er oder sie, Mensch oder Tier, Erdenwesen oder Monster aus anderen Welten. Ich weiß es nicht. Aber die Säfte dieses Körpers...“
„Das ist es also!“, rief Maria, mit Verspätung begreifend.
„Scheint, dass sie heilen und den Tod verhindern“, räumte Hermann ein, aber klang nicht kleinlaut dabei.
„Sie verhindern ihn nicht. Aber sie erwecken die Toten zu Wiedergängern. Und dann fressen diese Wiedergänger die Lebenden und machen sie zu ihresgleichen.“
„Ja, ich weiß. Inzwischen. Das wollte ich natürlich nicht.“
„Und doch bist du an dem Ding zugange. Wo kommt das überhaupt her?“
„Aus Byzanz, wie mir gesagt wurde. Die Sarazenen schleuderten es bei ihrer Belagerung über die Mauern. Nur durch Köpfen war seine Raserei zu stoppen.“
„Aber diese Schlacht...“
„...ich weiß, ist mehr als fünf Jahrzehnte her. Der Körper vertrocknet bei Tag und saugt die Feuchtigkeit der Nacht, bis er zu alter Lebendigkeit aufquillt und bei Sonnenaufgang wieder vertrocknet. Das ist so seit mir mein Lehrmeister vor 15 Jahren dieses Geheimnis anvertraute.“
„Das Ding wird lebendig?“
„Es steht nicht auf, keine Angst. Aber sieh selbst, was passiert, komm endlich näher.“
Er lächelte vertrauensvoll und winkte, als gedenke er, ihr eine seltene Pflanze im Wald oder ein schimmerndes Insekt im Sonnenlichte vorzuführen.
Maria hatte genug Leichen gesehen, um zu erkennen, dass dies hier eine war. Und doch lag ein Glanz von Leben über dem toten Ding. Als sei die Seele darin gefangen, erwache jetzt, dringe hervor, aber könne nicht ganz heraus.
„Was passiert, wenn man den Kopf und den Körper aneinanderfügt?“
„Außerhalb der Stunden tiefster Nacht überhaupt nichts.“
„Du hast es probiert?“
„Ja. Tagsüber sieht die Haut ganz anders aus. Wie Pergament.“
„Wie eine Mumie?“
Maria war jetzt ganz nah herangetreten und starrte auf die Zähne, die aus der Schnauze hervorbleckten. Die dünnen schwärzlichen Lippen wirkten feucht und beweglich.
„Ja. Wie ganz lange tot.“
„Und jede Nacht passiert das hier? Deshalb das Verbot an die Mönche, bei Nacht ihre Kammern zu verlassen?“
„Kann sein. Was meinst du, wollen wir es wagen?“
„Nein! Bist du des Wahnsinns?“
Er hatte keine Geste gemacht oder keinen Blick, aber es stand außer Zweifel, was er meinte. Er wollte es und wagte es nicht und wollte es so sehr, dass er einfach nur die Erlaubnis wollte, egal von wem.
„Das war doch Absicht. Du wolltest nie heilen. Du wolltest seine Säfte verbreiten und sehen, was sie aus den Menschen machen. Und du willst es wieder zusammenfügen.“
„Das ist nicht wahr.“
Er schaute sie an: verwirrt, sehnsüchtig, bittend.
„Und ein bisschen vielleicht doch. Das ist so ein Wunder, das hier.“
„Es ist des Teufels. Was, wenn wir es verbrennen?“
„Es brennt nicht. Und du glaubst doch gar nicht an den Teufel noch an Gott. Ich kenne dich, Maria. Du wusstest immer, dass meine Medizin nicht dem entspricht, was meine Kirche mir erlauben würde.“
„Dann mache dich frei davon. Wenn es nicht brennt, dann vergraben wir es. Oder stürzen es in eine tiefe Schlucht. Jetzt gleich, bevor der Tag anbricht.“
„Und was sollte das nützen?“
„Was nützt es, eine weitere Pinte Angstblut beizumischen und weitere Kranke damit zu infizieren?“
„Weil immer was anderes passiert, das ist ja das Unglaubliche. Mische ich es mit Salbei, zum Beispiel, heilt es Warzen. Pflanzen wirken anders als Mineralien. Selbst die Tages- und Jahreszeit, in der die Beimischung gesammelt und geschüttelt oder gerührt wird, das alles macht einen Unterschied. Füge ich Angstblut eines Kirchenschänders bei, wirkt es anders als mit dem Angstblut einer Diebin.“
„Und welche Mischung war es zuletzt? Was hast du Bruder Daniel verabreicht und mich dem Köhler geben lassen?“
Statt einer Antwort zog er die Ärmel seiner Kutte hoch und zeigte ihr kleine Schnitte in beiden Unterarmen. In dem Moment, in dem sie da hin starrte und begriff, ging ein erneuter Schauder durch den geköpften Riesenkörper. Sobald sie hinschaute, war da nichts mehr. Er bewegte sich nicht, aber aus den Augenwinkeln war einem, als raffe er sich auf zu einer Bewegung.
„Dein eigenes Blut? Wie kann das sein?“
„Ich weiß es nicht. Es war nach einem Zusammensein mit dir, es kommt auf die Stimmung an, weißt du.
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