Toten-Welt (German Edition)
helfen und zu heilen. Insofern hatte sie ihn richtig eingeschätzt und blieb bei ihrer Liebe trotz seiner harschen Befehle und seiner Rücksichtslosigkeit, sie in eine derartige Gefahr auf den Richtplatz zurück zu senden. Er wusste genau, was ihr dort blühte, wenn sie sich erwischen ließe.
Sie hatte sich im Nachtschatten an den Stamm des Baumes gelehnt und musste sich nun immer wieder wach zwinkern. Das konnte doch nicht die Nacht so zugehen! Irgendwann brauchte jeder mal Schlaf.
Sie jedenfalls hielt es nicht mehr aus. Um nicht fest wegzudösen und erwischt zu werden, wenn er schlafen ginge, denn sie pflegte recht laut zu schnarchen, stand sie auf und verschaffte sich Bewegung. Ecke um Ecke schlich sie einmal ums Gebäude und ein zweites Mal, immer auf der Hut, seinen Aufbruch nicht zu verpassen noch jemand anderem zu begegnen.
Da sie nun eine Vorstellung von den Außendimensionen wie auch den Innenräumen hatte, wurde sie bald stutzig. Die vermauerte Hintertür, die sie nun schon zweimal passiert hatte, entsprach dem Ort der Mauerverfärbung innen. Das war kein geheimer Durchlass, sondern ein ehemaliger Ausgang. Sie hatte sich zu viel eingebildet. Das Gebäude war groß und verwinkelt, da rechnete man leicht mit einem geheimen Anbau an Stellen, da keiner sein konnte und übersah ihn dort, wo er tatsächlich war. Aber wo sollte das sein?
Sie war kurz davor, aufzugeben. Selbst wenn es ein Geheimnis gäbe und sie es entdeckte, was dann? Half ihr das bei ihrem Ziel, ihn hier wegzubekommen in ein neues Leben hinein, fern von Mühen und Plagen und Gefahren?
Gedankenverloren besah sie sich den rundbogigen Fleck an der Mauer und folgte mit den Augen einem schattenhaften Aufstieg unters Dach. Als sie ein kratzendes Geräusch auf der anderen Seite des Gebäudes hörte, begriff sie den Zusammenhang. Es war außen. Und weit über dem Boden. Einst hatte hier vom Torbogen weg eine Stiege nach oben geführt. Wenn es einen Raum unterm Dach gab, wie war der dann heute zu erreichen ohne diese Stiege?
Sie eilte ums Haus herum und sah im von Wolken stark gedämpften Mondlicht das, was sie erwartet hatte. Hermann hatte aus seinem Kriechkeller eine Leiter hervorgezogen, an die Wand des jetzigen Eingangs gelehnt und war gerade im Begriff, durch eine kaum sichtbare Außenluke zwischen Dach und Maueroberkante zu verschwinden.
Die Stunde des Ausgehverbotes. Zwischen Mitternacht und dem ersten Frühgebet war es den Mönchen dieses Klosters verboten, sich im Freien aufzuhalten. Selbst dringende Bedürfnisse hatte man im Schlafsaal zu verrichten. Hermann hatte ihr von dieser Regel erzählt, die keiner mehr verstand, weil sie Generationen zuvor ohne Begründung eingeführt worden war, aber aus abergläubischer Furcht vor der Nacht hielten sich alle daran – alle außer einem.
Ausgerechnet da oben!
Maria war nicht wohl bei großen Höhen. Zögerlich setzte sie einen Fuß auf die erste Sprosse, klammerte sich mit beiden Händen fest und zog den anderen Fuß nach. Schon hier nun, einen Kätzchensprung über der Erde, wurde ihr flau. Sie musste sich selbst einreden und sich den Gedanken aufzwingen, dass sie mit dem nächsten nicht den zweiten Anstieg machte, noch höher, sondern nicht viel mehr als den ersten. Bloß nicht weiter als einen Kätzchensprung von der Erde entfernen!
Auf diese Weise schaffte sie es, sich bis zur Mitte der Leiter vorzuarbeiten. Was, wenn er jetzt zurückkäme? Panik bei dem Gedanken ließ sie zittern, und das Zittern ließ die Leiter schwanken. Die Angst, zu fallen, wurde übermächtig. Sie überwand die Panik, indem sie hurtig nun die nächsten Sprossen nahm und endlich oben ankam, sich in die Lücke zum Dachboden und auf die Bretter warf.
Viel zu laut! Und überhaupt.
Sie hatte völlig ohne Verstand gehandelt. Wenn er hier wäre, in diesem großen, spitzen, staubigen Raum, er hätte sie schon erwischt. Aber hier war er nicht.
Maria ließ das Gefühl, wieder festen Boden unter sich zu haben, auf sich wirken, und verdrängte den Gedanken, dass sie den Weg zurück zu nehmen hatte. Zurück war viel schlimmer. Rückwärts abwärts. Über großer Höhe aussteigen vom sicheren Dach auf die Leiter...
Rasch kroch sie auf allen Vieren in die Mitte des Dachbodens und sah sich um. Wo war er? Gut, dass er nicht hier war, aber hier gab es doch nichts zum Verstecken! Sie sah, als sich ihre Augen an das wenige Nachtlicht angepasst hatten, das durch die Dachziegelritzen hereinkam, dass außer einem verstaubten
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