Totenbeschwörung
Bildung. Wissenschaften im eigentlichen Sinn kennen sie nicht. Das wenige Wissen, das sie haben, ist reichlich primitiv und beschränkt sich auf das Notwendigste. Allerdings sind sie, wie die Zigeuner bei uns auch, ziemlich gut, wenn es darum geht, sich Zeichen auszudenken, Pfade durch den Wald zu markieren oder verschlüsselte Botschaften für andere Gruppen zu hinterlassen, die ihnen folgen. Irgendwann in ihrer Geschichte gab es wohl einen Punkt, an dem sie beinahe so etwas wie eine Technologie entwickelt hätten. Aber als die Wamphyri auf der Bildfläche erschienen, war es damit vorbei. Jeder eventuelle Fortschritt fiel der Notwendigkeit, ständig in Bewegung zu bleiben, zum Opfer. Ihre Hauptsorge gilt dem Überleben und nicht irgendwelchen technischen Entwicklungen. In gewisser Weise sind sie fünfhundert, wenn nicht gar tausend Jahre hinter uns zurück.«
Ehe Tzonov eine Zwischenfrage stellen konnte, fuhr Siggi fort: »Naturwissenschaften oder so etwas wie Physik kennen sie also nicht, wohl aber Metaphysik. In jedem von ihnen scheint ein bisschen von einem Wamphyri zu stecken. Nicht dass sie Vampire wären, beileibe nicht, aber sie haben gewisse ... Veranlagungen! Was man bei den Wamphyri im Übermaß antrifft, wurde auch bei einigen Travellern, wenn auch in weit geringerem Maß, über Jahrhunderte hinweg vererbt.
Hin und wieder zeigt es sich, dass einer von ihnen ein ›Mentalist‹, das heißt telepathisch begabt ist. Es gibt Hellseher unter ihnen, die gelegentlich einen flüchtigen Blick in die Zukunft erhaschen wie unser guter Mister Goodly. Das zweite Gesicht, Sterndeuten und Handlesen ist bei ihnen genauso weit verbreitet wie in Rumänien. Eigentlich verständlich, dass eine Welt, die der reinste Albtraum ist, so voller Aberglauben steckt. Andererseits hat Parapsychologie ja nichts mit Aberglauben zu tun. Das wirst du mir bestätigen, ebenso die gesamten E-Dezernate, die es auf der Welt gibt. Und leider sind auch die Wamphyri keine Märchengestalten!
Es gibt verschiedene Abstufungen des Vampirismus und die Wamphyri sind seine schlimmste Ausprägung. Aber in welcher Form oder Gestalt Vampire auch auftreten, existieren können sie einzig und allein auf der Sternseite, wo das Licht der Sonne sie nicht erreicht. Von da aus unternehmen sie während der langen Nächte ihre Überfälle auf die Sonnseite, rauben und plündern und ... fangen sich Sklaven, die sie noch vor Sonnenaufgang über das Grenzgebirge zurück in den Schatten der Sternseite schaffen müssen ...«
Siggi schwieg nachdenklich.
Schließlich fragte Tzonov: »Und?«
»Hm?« Sie schüttelte sich. Ihr fröstelte. »Ach ja! Nun, Nathan hat mir eine Menge über die Wamphyri erzählt. Nur ein Wahnsinniger würde es wagen, in ihr Territorium einzudringen. Er meinte, du seist ein Narr, wenn du diese Warnung nicht ernst nehmen würdest. Er weiß, was wir vorhaben, verstehst du? Als du versucht hast, seine Gedanken zu lesen, hat er in die deinen geschaut!«
»Huh!«, grunzte Tzonov. »Was meinst du, ist das eine ... Veranlagung? Oder hat er es von seinem Vater geerbt?«
Obwohl Tzonov sie ja nicht sehen konnte, schüttelte Siggi den Kopf. »Nathan hat keine Ahnung, woher er es hat. Das heißt, er hatte keine Ahnung, bis er zum ersten Mal einen Blick in Trasks Gedanken werfen konnte. Soweit er wusste, war sein Vater ein Szgany, ein Traveller namens Hzak Kiklu, der noch vor Nathans Geburt von der Waffe eines Wamphyri tödlich verwundet wurde. Natürlich hat Nathan sich seine Gedanken gemacht, und was in unseren Köpfen vorging, hat sie ihm nur bestätigt. Aber wie es scheint, ist es tatsächlich ein bloßer Zufall, dass ausgerechnet er durch das Tor gekommen ist.«
»Und wie ist es passiert?«
»Anscheinend wollten sie ihn für etwas bestrafen, für irgendein Vergehen, er weiß selbst nicht genau, wofür. Immerhin, ein Vergehen gegen die Wamphyri! Darum haben sie ihn verbannt und in das Tor zu den Höllenlanden geworfen, von wo noch nie jemand zurückgekehrt ist.«
»Nun, das stimmt«, sagte Tzonov. »Das Ganze ist eine Einbahnstraße, es sei denn, man weiß um jenes andere Tor in Rumänien ... Erzähl mir mehr über die Wamphyri! Warum zögerst du?«
Du hast ja keine Ahnung, was ich in seinen Gedanken gesehen habe. Und du wirst es auch niemals erfahren, denn ich werde dir nie wieder Zutritt zu meinem Geist gewähren. Und wenn du wüsstest, was Nathan mir gezeigt hat, würdest du liebend gern darauf verzichten, es dir anzusehen! Doch laut sagte sie
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