Totenbeschwörung
erwiderte Tzonov.
Die Wolken brachen auf und ein paar verirrte Sonnenstrahlen fielen hindurch. Es war nicht viel, doch es genügte, Tzonovs Laune etwas zu heben ...
Oben auf dem Hügel verschwand Tzonov hinter einem Felsvorsprung, um sich zu erleichtern. Unterdessen fand Siggi in den Staukoffern des Schlittens ein Fernglas und suchte den südwestlichen Horizont ab. Aus diesem Grund hatte sie hierher gewollt – um zu sehen, ob sie nicht einen Blick auf ...
... die Zigeuner!
Da waren sie, genau wie vor hundert, zweihundert, fünfhundert, wenn nicht noch mehr Jahren. Ein Stamm der Roma! Parias, Ausgestoßene, unterdrückt, verfolgt und immer nur von Land zu Land gejagt. Sie waren anders als andere Menschen, gewiss, und doch ihrem Ursprung näher als jedes andere Volk. Eine Gruppe von Zigeunern! Das halbe Dutzend bunt bemalter Wagen holperte klimpernd vor sich hin, zwar außer Hörweite, doch Siggi war, als könne sie die Glöckchen hören, während sie das Fernglas scharf stellte.
Sie mochten fünf oder sechs Kilometer entfernt sein. Auf der Flucht vor dem Winter strebten sie dem Süden zu. Nur ... etwas, was der junge Obergefreite gesagt hatte, ging Siggi nicht aus dem Kopf. Sie zogen doch ständig umher und kannten die Jahreszeiten! Warum um alles in der Welt waren sie noch hier? Sie blieben für sich, wann immer sie konnten, und mieden die dichter bevölkerten Regionen, das stimmte schon. Trotzdem müssten sie jetzt eigentlich tausend Kilometer weiter südlich anzutreffen sein. Unten am Ufer des Kaspischen Meeres, in Astrachan oder Baku. Vielleicht auch am Schwarzen Meer, in Moldawien oder ... Rumänien? Aber sie waren hier, und erst jetzt brachten sie sich vor der Kälte des Winters in Sicherheit.
Siggi blickte sich um, hielt Ausschau nach Tzonovs Spuren im Schnee. Er war nirgends zu sehen. Abermals wandte sie sich der winzigen Reihe von Wagen zu, die dort am Rand eines fernen Waldes entlangzogen. Im Gegensatz zu Tzonov benötigte sie keinen Augenkontakt, um ihr Talent einzusetzen. Sie vermochte ihren Geist pfeilgenau auf ein Ziel zu lenken, wenn sie es erst einmal im Visier hatte.
Viel Glück!, dachte sie. Lauf, Nathan, mach, dass du wegkommst, und kehre nie zurück! Sie hatte nicht im Entferntesten mit einer Antwort gerechnet, doch ...
... mit einem Mal rankten sich Zahlen um ihr Bewusstsein, hefteten sich an ihre Gedanken! Sie bekam eine Gänsehaut, so als stünde sie unter elektrischer Spannung.
Leb wohl, Siggi! , erklang Nathans Stimme in ihrem Geist. Sie erkannte sie auf Anhieb an der Wärme, die darin mitschwang. Ich werde dich nicht vergessen! Siggi war überrascht, wie deutlich sie Nathan hörte. Und sie hatte Angst! Starke telepathische Signale vermochte Turkur Tzonov ohne weiteres zu empfangen.
Auch dies bekam Nathan mit. Sofort zog er seine Gedanken wieder zurück. Der mentale Äther war wieder völlig leer und verlassen. Gerade noch rechtzeitig, denn Tzonov meldete sich bereits zu Wort.
»Siehst du etwas?«, rief er ihr zu. »Irgendetwas Interessantes?« Seine Stimme klang unbeteiligt.
Siggi seufzte erleichtert auf. »Den Rauch von den Dörfern und Holzfällerlagern«, erwiderte sie. »Eine Schar Vögel, Gänse, nehme ich an. Und ein Tier, das sich im Wald versteckt. Wahrscheinlich ein Hund, vielleicht auch ein Wolf. Es sieht bitterkalt aus da drüben, aber auch ziemlich ruhig.«
»Glaubst du?« Er ging hinüber zum Schlitten und ließ den Motor an. »Ich habe ein ungutes Gefühl! Es lässt mir keine Ruhe! Genug jetzt mit diesen Abstechern! Fahren wir zurück nach Perchorsk!«
Den gesamten Rückweg über war Siggi von einer tiefen Wehmut erfüllt, denn von nun an musste sie ihren Geist in einem Gefängnis verborgen halten, das sie auch noch selbst errichtet hatte. Obwohl sie versuchte, nicht an Nathan zu denken, ging er ihr nicht aus dem Kopf, und sie fragte sich, ob es ihm wohl auch etwas ausmache ...
Als sie in Perchorsk anlangten, nahm Tzonovs »ungutes Gefühl« schnell greifbare Gestalt an. Oben am Kamm des Passes saß sein Zugführer im Fahrersitz des Halbkettenfahrzeugs. Geduldig wartete er auf die Rückkehr des Schlittens und ließ den Motor im Leerlauf vor sich hintuckern.
Stabsfeldwebel Bruno Krasin war in den Dreißigern. Er war ein sehniger, feingliedriger Typ mit dunklem Teint, quadratischem Kinn und stahlhartem Blick und konnte nicht leugnen, dass seine Vorfahren Kosaken gewesen waren. Als Sohn eines KGB-Offiziers und eingefleischten Kommunisten alter Schule zählte Krasin
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