Totenbeschwörung
dir lesen wie in einem offenen Buch, Nestor. Du hast das Mädchen vorhin noch nicht einmal angesehen, und Glina hast du, was das angeht, auch nicht angerührt. Aber zu guter Letzt verlangen deine Säfte doch noch nach ihrem Recht. Du willst sie, aber du willst nicht, dass dir jemand dabei zusieht. Na schön, dagegen ist nichts einzuwenden! Handle ganz nach Belieben! Canker wäre der Letzte, der sich irgendjemandem aufdrängt. Außerdem hast du ja recht: Es reicht für heute Nacht! In der Räudenstatt gibt es genug zu tun! Ich werde zusehen, dass ich früh heimkehre und ein Auge darauf habe, was meine Knechte und meine Frauen so ... treiben! Und dann wäre da noch mein Lied für die Mondgöttin ...«
»Wohlan, bis nachher!«, verabschiedete sich Nestor. Canker warf den Kopf in den Nacken, gab seiner Bestie die Sporen und jagte auf eine Lücke zu, die sich zwischen den Bergspitzen auftat. Wenig später war er den Blicken entschwunden ...
Nestor ließ seine Bestie auf dem spärlichen Erdreich eines Bergsattels niedergehen. Ringsum ragten gezackte Granitfelsen in den Himmel. Die Senke lag nur um ein Geringes höher als die Baumgrenze der Sonnseite und war dicht mit violettem Heidekraut bewachsen, dessen süßlicher Duft die Nacht durchtränkte.
Als er Glina aus dem Sattel hob, merkte er, dass ihr kalt war. Sie zitterte. Nun, bald würde sie sich daran gewöhnt haben. Nur extrem niedrige Temperaturen vermochten einem Vampir wirklich etwas anzuhaben. Doch warum sollten sie es sich jetzt, für den Augenblick zumindest, nicht gemütlich machen?
Also nahm Nestor den Säugling herab, hüllte ihn in das weiche Leder seiner Jacke und legte ihn auf den Boden. Anschließend breitete er das Fell, in dem das Kind gesteckt hatte, aus und bettete Glina darauf. Da erwachte sie.
»Wer? Was?« Sie mühte sich ab, sich etwas aufzurichten, sank jedoch zurück und blieb, in das dunkle Fell gehüllt, bleich und zerzaust im Sternenlicht liegen. Sie war hilflos, seine Gefangene, ihm vollkommen ausgeliefert. Dieser Gedanke erregte Nestor. Er wollte sie haben, allerdings nicht mit Gewalt. Er wollte, dass sie von selbst zu ihm kam, so wie früher. Wenn nicht, würde sich schon eine andere Verwendung für sie finden. Immerhin bestand sie auch nur aus Fleisch und Blut.
Sie musterte ihn, schon seit einer geraumen Weile. »Du ...«, sagte sie schließlich. Doch ihre Stimme war kalt, ohne jedes Gefühl.
Er brachte ihr das Kind, zeigte ihr das kleine Gesichtchen.
»Mein Baby?« In ihrem Flüstern schwang mit einem Mal Hoffnung mit. Sie konnte es kaum glauben, streckte die Hände nach dem Kind aus ... und erkannte, dass es nicht ihres war.
»Nein!« Nestor schüttelte den Kopf. »Es ist nicht deins. Aber er kann dein Sohn werden, wenn du ihn willst.« Damit hüllte er den Säugling wieder in die Jacke und legte ihn zurück ins Farnkraut.
»Du hast mein Baby verbrennen lassen«, hauchte sie mit leerer Stimme, »und jetzt willst du mir dieses Kind hier geben? Welcher Mutter hast du es diesmal weggenommen?«
»Ich war nicht derjenige, der dein Baby verbrannt hat!« Die Lüge ging Nestor glatt über die Lippen, schließlich war er ein Vampir. »Es war der Hunde-Lord Canker Canisohn. Er hat eure Hütte angezündet. Außerdem hatten wir ja nicht die geringste Ahnung, dass sich noch ein Kind darin befand.«
»Mein Baby ist in den Flammen umgekommen, das ist alles, was ich weiß! Was macht es dir schon aus, Nestor? Du bist doch ein Vampir!«
Er zuckte die Achseln. »Das war seit jeher meine Bestimmung – Wamphyri zu werden! Habe ich dir nicht immer gesagt, ich sei der Lord Nestor? Nun, jetzt bin ich es!«
Mit einem Mal wurde Glina von einem heftigen Schluchzen geschüttelt.
Er setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die bebenden Schultern. »Tränen ändern jetzt auch nichts mehr.«
Erstaunt registrierte er, dass sie sich an ihn schmiegte ... Vielleicht war es aber auch gar nicht so erstaunlich, wenn man in Betracht zog, dass sie nun seine Sklavin war und er ihr Gebieter. Zudem spürte er eine Kraft in sich, ein Talent, das er bisher nicht eingesetzt hatte, weil ihm nicht bewusst gewesen war, dass er es überhaupt besaß. Er hatte es schlicht und einfach nicht gebraucht. Mit hypnotischem Blick und einem verführerisch einschläfernden Klang in der Stimme sagte er: »Wie oft haben wir beide, du und ich, in der Hütte deines Vaters so zusammengesessen, wenn die anderen schon schliefen. Manchmal sind wir dann zum Fluss hinuntergegangen
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