Totenbeschwörung
beiseite und bedeutete Nestor, näherzukommen.
Ganz wie der Gerissene ihn vorgewarnt hatte, war der Leichnam vollkommen zerschmettert und eingeschrumpft. Die verzerrten Züge sagten Nestor nicht das Geringste. Dieses Gesicht hätte jedem gehören können. Der Sturz von Gorvisumpf hatte es übel zugerichtet und es war zu brüchigem Pergament vertrocknet. Der Rest des Körpers machte ebenfalls keinen besseren Eindruck. Fast alle Knochen waren gebrochen, einige ragten wie dürre Zweige hervor.
»Wie lange hat er auf diesem Sims gelegen?«, wollte Nestor wissen.
»Zwei Jahre.« Gorvi zuckte die Achseln. »Aber er hat seinen Zweck erfüllt. Wenn ich es mit einem widerspenstigen Knecht zu tun hatte – hin und wieder soll so etwas ja vorkommen – führte ich ihn einfach an ein hoch gelegenes Fenster, ließ ihn auf den da hinabblicken und fragte, ob er die Kunst des Fliegens beherrsche wie wir Wamphyri. Denn du musst wissen, im Gegensatz zu unseren Leutnants und gemeinen Knechten vermögen wir Lords zu fliegen, wenn es notwendig ist. Der Anblick von Jasons Mumie brachte sie in der Regel wieder zur Vernunft! Und falls das nicht genügte ... nun, dann habe ich auch andere Möglichkeiten!«
»Zwei Jahre«, sinnierte Nestor. »Wie es aussieht, hast du recht. Die Luft der Sternseite ist blutleer und unfruchtbar. Als hätten wir der Landschaft selbst das Leben ausgesaugt!«
»Nicht wir, sondern die Grenzberge!« Erneut zuckte Gorvi die Achseln. »Ohne Licht gedeiht kein Leben! Hier gibt es nur den Untod!«
»Dies hier ist eine Mumie.« Nestor blickte auf den zerschmetterten Körper. Bislang hatte er ihn noch nicht berührt.
»Soll das etwa heißen, dass du es nun nicht mehr tun kannst?« Der Gerissene starrte erst ihn, dann den zerbröselnden Leichnam an. »Ist der Verfall zu weit fortgeschritten?«
Nestor sah Gorvi ins Gesicht, zwinkerte ihm zu und lächelte ein grässliches Lächeln. »Nein, keineswegs«, erwiderte er. »Selbst wenn er nichts als ein Häufchen Asche in einer Urne wäre, könnte ich mich noch mit ihm unterhalten . Um genau zu sein, hört er mir in ebendiesem Augenblick sogar zu.« Er hatte die Stimme zu einem Flüstern gesenkt. Sie war nicht mehr als ein trockenes, kehliges Rascheln.
»Eh?« Gorvi blieb der Mund offen stehen.
»Oh ja«, seufzte Nestor, ungewöhnlich traurig. »Siehst du denn nicht, wie er zittert?«
Der Gerissene wich vorsichtshalber einen Schritt zurück, denn womöglich war Nestor verrückt geworden. »So? Er zittert also? Das ... vermag ich aber nicht zu sehen!«
Nestor kniete sich neben den Leichnam. »Die Kunst der Nekromantie besteht nicht darin, es zu sehen. Ah, aber zu fühlen, wie er zittert, seine Angst zu spüren – das ist es, was sie ausmacht!«
Er lächelte wieder und streckte die Hände nach Jason Lidescis bebendem Leichnam aus ...
EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Gorvi der Gerissene wurde sich einer plötzlichen Veränderung im psychischen Äther bewusst. Die gesamte Aura des Ortes schien mit einem Mal anders. Die Umgebung des Tores war ohnehin merkwürdig. Wie ein riesiges, in einem gewaltigen Krater ruhendes Auge starrte die gleißend helle Halbkugel blind gen Himmel und erhellte den kargen Boden, die geschwärzten Felsen und zusammengeschmolzene Schlacke ringsum. Die verbrannte Erde und das Gestein um den Krater waren von unzähligen Löchern durchzogen, als hätten sich riesige Würmer hier ihre Gänge gegraben. Die unheimliche Glocke beinahe unmerklich pulsierenden Lichts, die sich von dem Portal aus wie ein in stummer Anklage erhobener Zeigefinger gen Norden erstreckte, dazu noch der Grund, aus dem er hier war – all dies verlieh Gorvi das ungewohnte, ungute Gefühl, dass etwas in der Luft lag. Und er nahm an, dass es sich bei dieser Ahnung, diesem Kribbeln, das er mittels seiner Vampirsinne gerade noch wahrnahm, um mehr handelte, weit mehr als bloßen Zufall; und so schrieb er es nicht allein der Tatsache zu, dass er sich zu dieser Zeit an diesem Ort befand.
Gorvi der Gerissene war empfänglicher für das Unheimliche als Canker Canisohn. Er spürte, dass zwischen Nestor und dem Leichnam etwas ... vorging . Und als die Hände des Nekromanten sich auf die zerschmetterte Stirn und die eingefallene Brust der Leiche senkten, wurde dieses Gefühl immer stärker. In jenem Augenblick begann Gorvi an Nestors Talent zu glauben. Er war überzeugt davon, dass dieser junge Mann tatsächlich mit den Toten zu reden vermochte. Er trat näher. Womöglich hoffte er, etwas von
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