Totenbeschwörung
die Verwandlung durchlaufen haben. Er bringt sie zur Strecke, noch ehe sie das Grenzgebirge erreichen, und verbrennt sie. Über ihn erzählt man sich mittlerweile genauso viele Geschichten wie über uns!« Gorvi hielt inne und schielte zu Nestor hinüber, um dessen Mienenspiel zu beobachten; doch plötzlich wandte er sich ihm ganz zu und blickte ihm direkt ins Gesicht. »Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«
Mit einem Mal sah Nestor aus, als sei er weit weg. Sein Blick war leer, den Kopf hatte er nach Südwesten gewandt, die Richtung, in der Siedeldorf lag.
»Hast du gesagt ›Jason‹?«, fragte er unsicher, stockend. Er blinzelte, rieb sich die Schläfen und stöhnte leise, als tue ihm etwas weh. »Der Sklave, den du von dem Anwesen auf dem Hügel hattest – hieß er etwa Jason?«
»Ganz recht«, nickte Gorvi. Dabei runzelte er die Stirn. »Na und?«
Nestor verzog vor Schmerz das Gesicht. Ein Bruchstück seiner Erinnerung blitzte auf. »Jason Lidesci!«, sagte er. »Lardis Lidescis Sohn! Das Haus, das du auf dem Hügel zerstört hast, gehörte dem alten Lidesci. Du hattest den Sohn deines ärgsten Feindes in deiner Gewalt und hast es noch nicht einmal bemerkt!«
»Was?« Gorvi klappte der Unterkiefer herunter. »Bist du dir da ganz sicher? Woher willst du das wissen?«
»Weil ... weil ich ihn kannte«, erwiderte Nestor. »Jason, das Haus auf dem Hügel, die Siedlung, einfach alles! Als du es mir geschildert hast, habe ich mich erinnert, zumindest an manches.« Doch er wirkte noch immer wie betäubt. Er stöhnte abermals, presste die Kiefer zusammen und hieb sich mit der Faust, so fest er konnte, in die Handfläche. Fluchend wandte er sich ab. »Es kommt zurück und entgleitet mir. Im einen Moment sehe ich ... etwas, und im nächsten ist es wieder verschwunden.«
»Den Sohn unseres ärgsten Widersachers!« Gorvi schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Ich hätte es wissen müssen! Von Anfang an war er verdrossen und widerspenstig und hat mir nichts als Schwierigkeiten bereitet! Als ich nach ihm sandte, um ihn nach den Szgany Lidesci zu befragen – das heißt, nachdem sie eine gewisse Bedeutung für uns erlangt hatten –, versuchte er aus Gorvisumpf zu fliehen und über die Geröllebene auf die Sonnseite zu entkommen. Das wäre natürlich sein Ende gewesen, die Sonne hätte ihn getötet. Doch so weit kam es nicht!
Meine Krieger, die dafür sorgen, dass sich kein Angreifer unserer Feste vom Boden aus nähert, trieben ihn wieder zurück, und meine Leutnants machten sich daran, ihn wieder einzusammeln – ohne Erfolg! Er trickste sie aus, rannte zurück zur Wrathhöhe und begann den Turm an einer der Außentreppen zu erklimmen. Es war so ungefähr das Dümmste, was er tun konnte; denn kurz vor der Räudenstatt endet die Treppe vor einem Felsüberhang. Aber warum war er dann hochgeklettert? Was versprach er sich davon? Entweder würde er sich zu Tode stürzen oder eine der Flugbestien würde ihn wieder einfangen. Ganz gleich, was geschah, er hatte keine Chance zu entkommen. Nun, ich sollte sehr bald erfahren, was er da oben wollte. Er hatte wirklich vor, sich zu töten!
Diese Leute sind einfach nicht unterzukriegen. Dieser Jason – Lardis Lidescis Sohn, wie du sagst – kletterte lieber da hoch, um sich in die Tiefe zu stürzen, als mir die Geheimnisse der Szgany Lidesci preiszugeben. Er ist tatsächlich gesprungen! Mehr noch, er hatte ein abgesplittertes Stück Eisenholz bei sich, das er sich gegen die Brust hielt, als er sprang. Die Wucht des Aufpralls trieb es ihm tief ins Herz, und das war sein Ende! Denn auch ein Vampir besteht letztlich nur aus Fleisch und Blut!
Er stürzte etwa sechzig Meter tief ab und schlug auf einem Sims auf, das dort weit aus der Felswand ragt. Er war sofort tot. Zur Abschreckung für die anderen ließ ich ihn einfach da liegen. Wie du weißt, weht auf der Sternseite immer ein schneidender Wind, der alles austrocknet. Hier verwest nichts, sondern was hier herumliegt, schrumpft einfach zusammen und wird mumifiziert! ›Die Toten erstarren zu Stein‹, wie man hier sagt. Hier gibt es keine Aas fressenden Vögel und meine Krieger können nicht fliegen. Außerdem waren sie viel zu groß und zu schwer, um zu dem Leichnam hinaufzugelangen, sonst hätten sie ihn wohl gefressen. Ich ließ ihn also ... einfach da, wo er gerade war – bis vor wenigen Stunden!
Denn mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, denen zufolge du über die Kunst der Nekromantie verfügst. Man sagt, es stehe in
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