Totenbeschwörung
sonst verfügt über so ein Talent. Du gehörst zu den Lebenden – was man so Leben nennt – und vermagst trotzdem mit den Toten zu sprechen. Und sie fürchten dich! Sie haben Angst davor, deine Stimme zu vernehmen oder gar deine Berührung zu spüren. Sie haben mir deinen Namen verraten, die zahllosen Toten, doch da stellte ich fest, dass ich ihn schon seit Langem kannte. Du bist der Nekromant Lord Nestor Leichenscheu von den Wamphyri, vormals Nestor Kiklu von den Szgany Lidesci. Wir sind zusammen aufgewachsen – in Siedeldorf. Wir wären besser auch gemeinsam gestorben!
Es verhielt sich mehr oder weniger so, wie Nestor vermutet hatte. Nur eines erstaunte ihn. »Wir ... sind zusammen aufgewachsen?« Er runzelte die Stirn. »Ich habe keinerlei Erinnerung mehr daran ...« Doch irgendwo in seinem Hinterkopf nahm ein Bild Gestalt an, ein Pfad in einem Wald und eine Lichtung, Kinder, drei an der Zahl, die fröhlich spielten. Zwei Jungen ... und ein Mädchen. Sie mochten vielleicht zehn oder elf Jahre alt sein. Nestor nahm die Szene durch die Augen eines vierten Kindes wahr. Er nahm an, dass es sich dabei um ihn selbst handelte. Es brachte eine Saite in ihm zum Schwingen, aber noch blieb alles verschwommen; und weil der Körper, der vor ihm lag, so entstellt war, sah Nestor sich nicht in der Lage, Jason Lidesci unter den Kindern auszumachen.
»Zeig mir, wie du damals ausgesehen hast«, verlangte Nestor von dem bebenden Leichnam. Obwohl Jason sich nach Kräften dagegen sträubte, tauchte vor seinem geistigen Auge reflexartig prompt das Bild eines Kindes auf. Nestor sah es, und nun war ihm klar, dass Jason sich tatsächlich unter den spielenden Kindern befunden hatte. Doch wer waren die beiden anderen?
»Hast du die Bilder der Kinder gesehen, die mir durch den Kopf gingen?«
Ja, das habe ich.
»Wer sind sie und wie heißen sie?«
Was? Du kannst sie doch unmöglich vergessen haben ... wo sie dir so nahestanden!
Nestor seufzte hinterhältig, packte Jasons lose herabhängenden Unterkiefer und verrenkte ihn – ein bisschen nur, bis das spröde Fleisch am rechten Mundwinkel des Leichnams Risse bekam. Das genügte, denn Jason Lidesci kam es so vor, als würde ihm das Gesicht in Stücke gerissen.
Nein, bitte! Mein Gesicht!, schluchzte er.
»Wer sind die Kinder?«
Misha!, brüllte Jason. Das Mädchen heißt Misha Zanesti! Hemmungslos schluchzend stieß er unter Qualen hervor: Und der Junge heißt ... Er heißt Nathan. Tu mit mir, was du willst, Nestor, aber ich kann nicht glauben, dass du ihn vergessen hast!
»Misha? Sie heißt ... Misha?« Bisher hatte Nestor im Flüsterton mit Jason gesprochen. Doch mit einem Mal versagte ihm die Stimme. Die Augen traten ihm aus den Höhlen, die bebenden Lippen entblößten riesige Fangzähne und hastig zog er die Hände von dem Toten zurück.
Wie oft war der Nekromant aus unruhigen Träumen erwacht, diesen Namen auf den Lippen, ohne zu wissen, was er zu bedeuten hatte! Doch nun schien sich das Dunkel zu lichten. Ganz allmählich stieg in seiner Erinnerung ein weiteres Bild auf: dieselben Kinder wie zuvor, diesmal ein bisschen älter, am Ufer eines von Bäumen gesäumten Flusses – und sie waren lediglich zu zweit ...
... Nathan und Misha!
Nur Nestor als stummer Beobachter, genauso fassungslos wie damals!
Die Kinder an einer Flussbiegung, an der sich die seichten Wellen kräuselten und gelben Sand und Kies am Ufer abgelagert hatten. Nathan auf einem Felsen sitzend, im Hintergrund der Wald, während Misha lachend umherschwamm und ihn damit aufzog, dass er sich wohl nicht traue, im Fluss zu schwimmen. Nackt stand sie da, ohne Scheu, und bedeutete ihm, zu ihr ins Wasser zu kommen. Das Sonnenlicht schimmerte auf ihrem gebräunten, elfenhaften Körper und betonte die noch kaum entwickelten Brüste, brach sich in den glänzenden Tropfen, die der Fluss im zarten, dunklen Flaum ihrer Scham hinterließ. Sie war kein Kind mehr, aber noch lange keine Frau, voller Unschuld (war sie wirklich so unschuldig?), als sie sich Nathan präsentierte.
Nestor reagierte genau wie damals. Er wollte sie haben und zugleich verachtete er sie ob ihrer Naivität. Nie hatte Misha auch nur bemerkt, was er für sie empfand. In jenen Tagen hätte er zwar ohnehin nicht viel mit ihr anzufangen gewusst, dennoch wollte er sie, auch wenn sie ihr Herz einem anderen geschenkt hatte. An dem Ziehen in seiner Brust hatte er erkannt, dass sie längst Nathan gehörte. Und er fragte sich: Ist sie das wirklich? Dieses
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