Totenbeschwörung
jemandem mit Geist verlangte.
Denn Nestor hatte unter Gedächtnisverlust gelitten. Verletzt, mit gebrochenem Schädel, hatte er keinerlei Erinnerung mehr gehabt, keine Vergangenheit, bis auf eine einsame Stimme in seinem Hinterkopf, die in einer endlosen Litanei wiederholte: »Ich bin Lord Nestor!« Doch dabei konnte es sich nur um Einbildung handeln, denn es war offensichtlich, dass er kein Wamphyri war. Die Sonne fügte ihm nicht den geringsten Schaden zu, er aß das Gleiche wie jeder andere Mensch auch, und seine Sinne reichten bei Weitem nicht an diejenigen eines Vampirs heran, noch nicht einmal an die eines gesunden Menschen. Nein, das war ein Hirngespinst gewesen, ein verirrtes Bruchstück aus vergessenen Zeiten ... oder vielleicht eine Vorahnung?
Glina machte ihn zum Mann – gewissermaßen – aber sie machte ihn nicht gesund. Nestor zermarterte sich den Kopf über seine verlorene Vergangenheit und gewöhnte es sich an, seine Gedanken schweifen zu lassen. Da er über keine zusammenhängenden Erinnerungen verfügte, schienen sein Kopf und sein Körper zwei voneinander getrennte Dinge zu sein, so als sei er vom Willen eines anderen abhängig.
Mit Glina zu schlafen oder vielmehr, von ihr genommen zu werden, entwickelte sich zu einer instinktiven, automatischen Angelegenheit. Mit Liebe hatte das Ganze wenig zu tun. Aber wenn ihm das Blut durch die Adern schoss und sein Schaft wütend in ihr ein- und ausfuhr, flammte in seinen Augen so etwas wie Leidenschaft und in seinem Herzen so etwas wie ein Gefühl auf. Doch es war keineswegs Liebe. So viel war Glina klar.
Manchmal, wenn Nestors merkwürdig kalte Leidenschaft ihrem Höhepunkt entgegenstrebte und seine Stöße immer heftiger wurden, spürte sie, dass er sie umbringen wollte. Denn dann ließen seine Hände von ihren Brüsten ab und suchten ihre Kehle, sodass sie sich wehren musste. Mitunter hörte sie ihn auch einen Namen flüstern: Misha.
Misha! Es klang wie ein Fluch, so bitter, als habe er in einen wurmigen Apfel gebissen. Also hasste Glina diese Misha, ohne sie überhaupt zu kennen, weil Nestor sie gekannt und geliebt hatte und weil sie ihn wesentlich tiefer verletzt hatte, als Glina es jemals vermögen würde.
Das jedenfalls vermutete Brad Bereas eher unansehnliche Tochter ...
Schließlich brach die Nacht der Wamphyri an! Hoch oben am Himmel schwebten ihre Flieger ... Aus den wummernden Stoßdüsen ihrer Krieger entwich ein grässlicher Gestank in die klare Nachtluft! Aber Brad Bereas Haus lag geschützt im Dickicht des Waldes, gut getarnt, verborgen und sicher. Wie im Wind treibende Wolken glitten die Wamphyri auf ihrem Weg nach Norden vorüber. Sie folgten dem Nordstern über das Grenzgebirge nach Starside.
Doch Nestor hatte sie gesehen. Er spürte die unheimliche Verlockung, die von ihnen ausging, und in seinem Hinterkopf flüsterte eine leise, aber beharrliche Stimme unablässig: »Ich bin Lord Nestor von den Wamphyri!« Ein Vampirfürst? Vielleicht war er das einmal gewesen und durch eine Laune des Schicksals in einen Menschen zurückverwandelt worden! Irgendwie musste er es herausfinden.
In jener Nacht hatte Nestor sich, als alles schlief, hinaus ins Dunkel geschlichen und die Bereas verlassen. Doch während er durch den düsteren Wald wanderte, war er nicht allein. Wie ein blauer, über den Grenzbergen festgefrorener Eisklumpen wies ihm das Glitzern des Nordsterns den Weg. Es begleitete ihn, und er wusste, dass dieser Unglücksstern nicht nur über der Sonnseite schien, sondern auch über der Sternseite und der letzten großen Felsenburg der Wamphyri ...
Als der Morgen dämmerte, fand Nestor sich in den Ausläufern des Gebirges wieder – und in der Nähe von Ungeheuern!
Zwei Wamphyri-Lords waren auf die Sonnseite gekommen, um sich dort ein Duell zu liefern, dessen Zeuge Nestor wurde. Wran Todesblick, wegen seiner Wutausbrüche auch Wran der Rasende genannt, der eine, Vasagi der Sauger der andere. Vasagis Gesicht war der reinste Albtraum. Er hatte weder Mund noch Kinn, sondern stattdessen einen spitz zulaufenden Rüssel, eine unruhig hin und her zuckende Nadelsaugspitze, die ihm das Aussehen eines ungeheuren Insektes verlieh ... Doch nachdem Wran mit ihm fertig war, sah er noch schlimmer aus. Vasagis Gesicht war nur noch eine einzige klaffende, bluttriefende Wunde, die wirkte, als habe man ihm ein Glied aus der Gelenkpfanne gerissen.
Aber Nestor war mehr als bloß ein Augenzeuge. Tatsächlich mischte er sich in den Kampf ein und rettete
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