Totenbeschwörung
tiefer herab und Nestor hatte es nicht eilig. Die Dunkelheit war schließlich sein Element, immerhin war er Wamphyri und verfügte über unerschöpfliche Kräfte.
Außerdem war er ... hungrig.
Bald darauf wusste er, wo er sich befand – in den Wäldern zirka fünf Kilometer südlich, anderthalb Kilometer östlich von Siedeldorf. Früher hatte er als Kind hier gespielt und als junger Mann hier gejagt. Die Erinnerung zog an ihm vorüber, flüchtig wie ein Nebelschleier, und löste sich in nichts auf. Seine Kindheit und Jugend waren wieder vergessen, dennoch fand er instinktiv den Weg. Noch sechs, sieben Kilometer, und er hatte die Ausläufer des Gebirges erreicht. Vor ihm erstreckte sich die lange Nacht der Sonnseite, Zeit genug, das Grenzgebirge zu erklimmen und in Sicherheit zu gelangen, lange bevor die Sonne aufging.
Es gab da nur ein Problem! Er merkte, dass die sogenannte Unerschöpflichkeit der Wamphyri ein Märchen war. Die Anstrengung hatte ihn erschöpft und obwohl er lange geschlafen hatte, schwanden ihm zusehends die Kräfte. Dazu quälte ihn noch immer der Hunger ...
Wäre er nur hundert Jahre älter, wäre alles so einfach gewesen! Er hätte sich nur eine Anhöhe suchen und sein dehnbares Vampirfleisch zu Flügeln ausbreiten müssen und hätte im Gleitflug nach Hause auf die Sternseite fliegen können. Doch Nestor mochte zwar ein Lord sein, in dieser Hinsicht jedoch verfügte er über keinerlei Erfahrung. Er hatte Fortschritte gemacht, sicherlich, aber sie waren noch nicht so weit gediehen, dass er auch die Kunst des Fliegens beherrschte. Tatsächlich hatte er noch keinen einzigen Lord der Wrathhöhe beim Fliegen ohne weitere Hilfsmittel beobachtet, obwohl Canker Stein und Bein schwor, dass sie alle dazu in der Lage seien, sollte es notwendig werden.
Der Gedanke daran, sich einfach in die Nacht zu erheben und mit dem Wind dahinzugleiten ... Sehnsuchtsvoll hob Nestor den Kopf, blickte empor zum sternenübersäten Himmel und ...
... erspähte die Umrisse rochenförmiger Gestalten, die hoch über ihm dahinjagten. Seine Gedanken überschlugen sich. Ein Suchtrupp? Hatten Zahar oder Wratha ihre Knechte und Leutnants losgeschickt, die nun über die Berge kamen, um nach ihm Ausschau zu halten? Nun, Wratha wäre es vielleicht zuzutrauen ... Zahar dagegen wohl kaum. Auch wenn Nestor geschworen hatte, er werde zurückkehren, musste Zahar als sein Gefolgsmann darin doch eine Chance zum Aufstieg sehen. Wie er es allerdings anstellen wollte, war schwer zu sagen – denn Zahar trug weder ein Ei in sich noch war er lange genug Vampir. Aber immerhin war es eine Gelegenheit!
Blieb also Wratha.
Mittels seiner telepathischen Kräfte tastete Nestor den Himmel ab und erkannte, dass es sich keineswegs um Wratha handelte. Die Reiter, die da oben dahinjagten, waren die Letzten, denen er im Augenblick begegnen wollte: die Gebrüder Wran und Spiro Todesblick! Auf keinen Fall durften sie ihn hier entdecken! Mit einem kleinen Jagdtrupp zogen sie ihre Kreise und senkten sich allmählich zur Erde hinab. Doch noch während Nestor hinsah, gingen sie in den Sturzflug über, um wie Geier auf ihre Beute hinabzustoßen.
Nestors Vampirsinne waren aufs Äußerste gespannt. Er hörte, wie etwas von Nordwesten her durchs Unterholz brach. Selbst aus dieser Entfernung vernahm er das heisere Keuchen der flüchtenden Szgany. Die beiden Brüder hatten eine Travellersippe aufgespürt und schon bald würden ihre Schreie durch die Nacht hallen und das Blut in Strömen fließen. Nestors Herzschlag beschleunigte sich bei dem Gedanken daran ...
Er hatte Glück gehabt! Wären die Jäger nicht so auf ihre Beute erpicht gewesen, hätten sie seinen Abtastversuch sicher gespürt. Er konnte sich recht gut vorstellen, was die Herren der Irrenstatt mit ihm anstellen würden. Einen schnellen Tod sahen sie für ihn gewiss nicht vor, dafür jedoch einen endgültigen durch das Schwert, den Pfahl und das Feuer.
Wer konnte es ihnen verdenken? Außer den beiden Brüdern und ihren Knechten gab es keine weiteren Zeugen und kein Hahn würde je danach krähen. Nestor war zweifelsohne ihr Feind, schließlich machte er mit Wratha und dem Hunde-Lord gemeinsame Sache, um ohne Rücksicht auf die anderen die obere Hälfte der Wrathhöhe zu einer Festung auszubauen. Könnten sie Nestor loswerden, wäre Wratha geschwächt, was den Gebrüdern nur zum Vorteil gereichte.
Ja, er hatte Glück gehabt und es blieb ihm auch weiterhin hold. Irgendjemand – wohl ein Traveller,
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