Totenbeschwörung
bisschen übergewichtig. Man hätte sie sogar als gut aussehend, vielleicht auch als »Prachtexemplare« bezeichnen können. Sie waren gewiss nicht hässlich, jedenfalls nicht, was ihr Aussehen anging.
»Im Augenblick verkocht Vasagis Blut gerade zu Schleim!«, beantwortete Wran die Frage seines Bruders. »Ich habe seinen Egel ausgesaugt und ihn dann an einem Hang angepflockt, damit er darauf warten kann, dass die Sonne aufgeht. Was den hier betrifft« – erneut warf er einen Blick auf Nestor – »er war mir behilflich. Auf jeden Fall betrachte ich ihn als Verbündeten. Er ist Lord Nestor.«
Spiros Augenbrauen hoben sich. »Ein Lord, sagst du?«
»In der Tat!«, erwiderte Wran. »Er hat das Ei des Saugers!«
»Ahhh!« Spiro sog erstaunt die Luft ein. »Aber ... das musst du mir erzählen!«
»Alles zu seiner Zeit«, entgegnete Wran. »Doch im Augenblick sollten wir weitermachen.« Zu Nestor gewandt meinte er:
Wo bin ich stehen geblieben? Ach ja, die Irrenstatt, die wir jetzt hinter uns lassen. Weiter oben befindet sich die Räudenstatt, in der Canker Canisohn den Mond anheult. Noch weiter oben ist die ... Saugspitze. Hah! Doch nun soll sie einen neuen Namen bekommen, der auch zu ihrem neuen Herrn passt. Was sagst du dazu, Nestor?
Als Kind hatte Nestor sich einen Kniff angeeignet, mit dessen Hilfe er sein Bewusstsein vor seinem Bruder verschließen konnte. Zwar waren sowohl seine Kindheit als auch sein Bruder aus seinem Gedächtnis gelöscht. An Letzteren erinnerte er sich nur undeutlich als an einen weitgehend »mythischen« Gegner, der auf der Sonnseite lebte. Doch der Trick selbst stand ihm immer noch zur Verfügung. Dazu musste er quasi »in Schieflage« denken, nur auf einer Seite seines Gedankenstromes. Auf diese Weise behielt er seine Geheimnisse für sich. Diese Fertigkeit beherrschte er instinktiv, und jetzt kam sie ihm zustatten wie nie zuvor. Immerhin war Wran ja der Meinung, Vasagi sei in der Sonne geschmolzen.
Vielleicht verhielt es sich so, vielleicht aber auch nicht. Nestor war klar, dass es gefährlich wäre, einzugestehen, was er getan hatte, nämlich Vasagi zu befreien, nachdem Wran ihn bereits für tot gehalten hatte. Aus diesem Grund hielt er es auch für klüger, Vasagis Stätte nicht umzubenennen.
Darum antwortete er: Lass ihr doch ihren Namen. Fürs Erste dürfte Saugspitze noch genügen.
Doch im nächsten Augenblick stieß er hörbar die Luft aus. Denn mit einem Mal begriff er, was Wran damit meinte! Die Saugspitze sollte einen neuen Namen erhalten, der zu ... ihm passte, ihrem neuen Herrn! Lord Nestor von den Wamphyri! Er vermochte seine Gedanken nicht länger in Zaum zu halten: Nun ... bin ich tatsächlich ... ein Wamphyri!
Huh!, erklang Spiros mentales Ächzen. Zu Wran gewandt, fuhr er fort: Bruder, du bist wechselhaft wie die Winde, die um die Wrathhöhe brausen! Ich dachte, wir hätten ausgemacht, ich soll der Herr der Saugspitze werden! Auf diese Weise hätten wir beinahe die Hälfte des Turmes unter unserer Kontrolle! Und nun?
Nun?, erwiderte Wran, und diesmal war er derjenige, der auf seine Gedanken achten musste, um sicherzustellen, dass nur Spiro sie mitbekam. Hm, wenn wir es so einrichten können, dass dieser Schwachkopf Nestor an deiner Stelle Herr der Saugspitze wird, läuft es auf so ziemlich dasselbe hinaus! Auf diese Weise wirst du bald Gelegenheit haben, ein anderes Stockwerk zu übernehmen – wenn wir erst noch ein, zwei andere Rechnungen beglichen haben, he!
Düster und geheimnisvoll wie die Sünde selbst hallte ihr Kichern durch den mentalen Äther, bis es allmählich verklang. Und nun waren es vier Flieger, die sich in einer Linie nebeneinander zu den höher gelegenen Stockwerken und Landebuchten emporschwangen ...
»Nestor!«, rief Wran schließlich, während Felshöhlen und Simse, aus Knochen gedrechselte Wehrgänge und Außentreppen aus mit dem Gestein verschmolzenen Knorpel an ihnen vorüberglitten und in dem luftigen Abgrund entschwanden. »Das da unten war gerade die Räudenstatt. Nur vier Stockwerke, wie du siehst. Mehr als genug für den Riesenköter, der dort haust. Viel kann ich dir nicht darüber sagen. Ihr Herr und Meister ist für so gut wie nichts zuständig. Sein einziger Daseinszweck scheint darin zu bestehen, eine Art Puffer zu bilden zwischen Wrathas Stätte und uns anderen! Aber wenn wir uns zu Bett begeben, geistert Canker oft noch umher. Er hält sich mehr Weiber als der Rest von uns – er hat so seine Bedürfnisse, verstehst du? Aber
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