Totenbeschwörung
seinen Flieger zu dirigieren. Allerdings nicht so beschäftigt, dass er die Lady Wratha übersehen hätte, die etwas seitlich oberhalb der Landebucht an dem aus Knochen geschnitzten Balkon eines Beobachtungspostens lehnte.
Schon nach dem ersten flüchtigen Blick war es um Nestor geschehen. Er war einfach hingerissen und konnte die Augen nicht mehr von ihr wenden. Das musste er jedoch, denn Gorvis Flieger war bereits gelandet und rutschte schwerfällig zur Seite, um Nestors Bestie Platz zu machen. Nestors Kreatur kannte die Prozedur. Sie schwebte im Wind und wartete ab, bis sie an der Reihe war. Ihre Schwingen waren zu riesigen Segeln gebogen und die Stummelbeine nach vorn gestreckt, um den Aufprall der Landung abzufangen. Einen Moment lang empfand Nestor so etwas wie Furcht! Die bloße Höhe ließ ihn schwindeln! Er vermied es, nach unten zu sehen, klammerte sich an Zaumzeug und Sattel fest und war klug genug, seinem Tier keine weiteren Anweisungen mehr zu erteilen.
Endlich machte Gorvis Bestie den Landebereich frei, und Nestors Flieger senkte sich Zentimeter um Zentimeter herab und strebte dem ausgehöhlten Felsen entgegen. Als ein paar Knechte auf ihn zukamen, um ihm die Zügel abzunehmen und die Kreatur wegzuführen, ließ Nestor sich erleichtert aus dem Sattel gleiten, froh, wieder festen Grund unter den Füßen zu haben. Nur dass es sich eben nicht um festen Grund handelte, sondern um den Eingang einer Höhle mehr als achthundertfünfzig Meter über der Findlingsebene! Selbst als Nestor sicher auf dem Boden der riesigen Landebucht stand, schwankte er noch immer.
Wran erschien von irgendwoher, nahm ihn am Arm und flüsterte: »Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, Schwäche zu zeigen. Überlass mir das Reden und alles wird gut gehen.« Nestor stimmte diesem Vorschlag nur allzu gern zu. Ihm war schwindlig, außerdem war er aufs Äußerste beeindruckt. Ihm fehlten die Worte.
Im rückwärtigen Teil der Landebucht wanden sich steinerne Treppen mit knöchernen Brüstungen an der Felswand empor zu Gängen und Balkons, die wiederum in noch höher gelegene Geschosse des von Höhlen durchzogenen Felsens führten. Weitere Durchgänge verliefen zu steilen, aus Knorpel errichteten Treppenhäusern und -schächten hinab. Hoch oben stand Wratha und blickte von einer Galerie zu ihnen hinab. Nestor spürte ihre Gegenwart und wandte die Augen nach oben. Ihr Anblick verschlug ihm den Atem.
Wratha dagegen schenkte ihm nur einen flüchtigen, wenn auch abschätzenden Blick, ehe sie das Wort an Wran richtete. »Lord Todesblick, zurück von der Sonnseite, wie ich sehe, und noch dazu an einem Stück!« Fragend hob sie eine Augenbraue. »Was ist mit dem Sauger?«
»Kannst du dir das nicht denken?«, erwiderte Wran und grinste wie ein Totenschädel. »Oh, ich weiß, wem du den Vorzug gegeben hättest, Wratha, doch leider ist es anders gekommen. Mittlerweile dürfte Vasagi dahingeschmolzen sein. Ich nehme an, von ihm ist nichts mehr übrig als ein Fettfleck an dem Hang, an dem ich ihn angepflockt habe, damit er auf den Sonnenaufgang wartet. Wir selbst sind ihren Strahlen nur mit knapper Not entgangen, als wir ihn dort zurückließen.«
»Wir?« Abermals streifte ihr Blick Nestor und kehrte zu Wran zurück.
Wran schaute zu Nestor. »Wie ich an ihn gekommen bin, kann ich bei meinem Empfang erzählen.«
»Gut«, nickte Wratha. »Ich habe ein Festmahl für einen von euch vorbereitet, ganz gleich, wer der Sieger sein sollte. Wenn ihr mir nun oben in meinen Gemächern Gesellschaft leisten wollt ...«
Gorvi und Spiro folgten bereits einem knochenverzierten Gang nach oben. Wran und Nestor wollten es ihnen gleichtun, wurden jedoch aufgehalten. Von unten, aus einem der tiefer gelegenen Treppenhäuser, kam eine breitschultrige Gestalt herauf. Die glänzende Lederkleidung wies den Mann als Leutnant aus.
»Mylady!«, rief er zu Wratha hinauf. »Ich bitte um Verzeihung für mein Eindringen, aber ... ich glaube, ich habe ein Recht dazu!« Die Augen unter den buschigen, schwarzen Brauen blickten wild. Tief in ihrem Innern glomm ein dunkles, rotes Feuer. Der Mann war ein Vampir, wie er im Buche stand.
Missmutig sah Wratha zu ihm hinab. »Bist du etwa ein Gefolgsmann Vasagis?«
»In der Tat!«, antwortete er. »Ich bin Gore Saugersknecht – geboren auf der Sonnseite ... Ich bin der Erste, den Vasagi in seinen Dienst nahm, und nun Hüter seiner Bottiche ... Mir scheint, dass die Stätte meines Herrn neuer Führung bedarf. Wenn Ihr mich dieser Ehre für
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