Totenbeschwörung
nachgehen mussten, trugen den Geruch ihrer Herrin an sich und waren dadurch geschützt. Wenn jedoch ein Fremder es wagen sollte ...
Nestors Blick wurde vom Deckengewölbe angezogen, an dem er bereits mehrmals ungewöhnliche, verstohlene Bewegungen wahrgenommen hatte. Jetzt sah er, worum es sich handelte – um eine Kolonie riesiger Fledermäuse der Gattung Desmodus! In den finstersten Winkeln und der Düsternis tiefer Simse, wo ihre Hinterlassenschaften verborgen blieben und niemanden zu stören vermochten, hingen die geringeren Bewohner der Wrathspitze wie dichte, schwarze Spinnweben oder die Überreste eines Schleiers von Decken und Wänden herab und ließen das Dunkel zu wimmelndem Leben erwachen. Noch während Nestor hinschaute, flogen ein paar Nachzügler durch ein Fenster herein und gaben, während sie sich verteilten und verschiedenen Stellen des lebenden Wandbehangs zustrebten, schrille Laute von sich. Da sie allesamt Vampire waren, wenn auch keine menschlichen, waren sie Wrathas Vertraute. Und Nestor fragte sich, doch ohne jede Abscheu, ob fünf Stockwerke tiefer, in der Saugspitze, eine solche Kolonie wohl auch zu seinem Erbe zählte.
Während Nestor diese Beobachtungen anstellte, aß er weiter, bis er endlich satt war. Seufzend zerrte er einen letzten Bissen zarten Fleisches vom Schenkelknochen eines Wolfswelpen, ließ seine Blicke den Tisch entlangschweifen und ... hörte auf zu kauen. Aller Augen waren wie gebannt auf ihn gerichtet, sie hatten ihm zugesehen, wie er sich über die Speisen hergemacht hatte. Zu guter Letzt legte er den glänzenden Knochen beiseite, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, um sie abzuwischen, und warf Wran einen fragenden Blick zu. Der Rasende schien sich über irgendetwas köstlich zu amüsieren. Mühsam unterdrückte er ein Lachen, grinste lediglich und nahm einen weiteren Schluck aus seinem Becher. Doch Wratha, nicht weniger fasziniert als die anderen, hob eine Augenbraue und sagte:
»Nun, zumindest einer von uns hat Appetit!« Das brachte Bewegung in ihre übrigen Gäste. Nun langten auch sie nach ihren Spießen ...
Nach einer Weile, als alle der um die Tafel Versammelten es Nestor gleichtaten, den Wein hinunterstürzten und in den diversen Leckereien herumstocherten, erhob Wratha sich und pochte auf die Tischplatte, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Meine Lords«, begann sie in nüchternem Tonfall. »Wir sind hier zusammengekommen, um jemand Besonderen aus einem seltenen und außergewöhnlichen Anlass zu ehren. Wir beglückwünschen Wran Todesblick zu seiner Rückkehr von der Sonnseite, wo er letzte Nacht einen Ehrenhandel mit Vasagi dem Sauger ausgetragen hat. Leider weilt Vasagi nicht mehr unter uns. Hiermit fordere ich Wran, genannt der Rasende – und das zu Recht – auf, uns alles zu erzählen und in seinem Bericht keine Einzelheit über Sieg und Niederlage auszulassen.« Damit nahm sie wieder Platz. Es war die übliche Einleitung. Die Lords unter den Anwesenden hatten Ähnliches schon früher in Turgosheim zu hören bekommen, für gewöhnlich von Vormulac Ohneschlaf, dem Herrn der düsteren Vormspitze.
Wran straffte sich und setzte zum Sprechen an. Doch er kam nicht dazu!
Ein Laut oder vielmehr eine Folge von Tönen unterbrach ihn. Ein kreischendes Trillern, ein Zwitschern wie von hundert Vögeln der Sonnseite drang aus einem der Treppenschächte zu ihnen herauf. Zunächst hörte man nur ein merkwürdiges Flöten, doch gleich darauf erklang ein Lachen und schließlich beides zugleich, ein seltsames Pfeifen vermischt mit johlendem Gelächter!
»Canker Canisohn!«, meinte Wran finster, noch ehe überhaupt etwas von Canker zu sehen war. Doch schon im nächsten Moment tauchte er auf. Einer von Wrathas Knechten geleitete ihn katzbuckelnd herein. Nestor blickte auf, sah Canker, und der Mund blieb ihm offen stehen. Dies also war der fehlende Lord? Das sollte ein Lord sein? Die Übrigen der um den Tisch Versammelten sahen wenigstens aus wie Menschen. Aber der hier?! Nun, irgendwie erinnerte er schon an einen Menschen, größtenteils jedoch an ein anderes Wesen!
Später sollte Nestor etwas über Cankers Geschichte erfahren, über seine unsägliche Blutlinie. Irgendwo in seiner Ahnenreihe musste sich ein Fuchs, ein Hund oder Wolf befunden haben. Was auch immer es gewesen sein mochte, das Tier hatte sich wahrscheinlich verirrt gehabt und war auf der Suche nach Wasser von seinem angestammten Jagdrevier auf der Sonnseite oder in den Bergen in die Sümpfe
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