Totenbeschwörung
Gehirn auch noch das kleinste Bruchstück an neuem Wissen auf wie eine verdorrte Pflanze den lange ersehnten Regen. Unterdessen warteten tief in seinem Unterbewusstsein die noch im Keim vorhandenen Reste seiner Träume, seiner Kenntnisse, sogar seiner Erinnerung – wie entstellt oder entfernt von ihrem Ursprung sie auch immer sein mochten – darauf, zu neuem Leben zu erwachen. Doch in einem erschöpften Körper vermochte Nestor nicht stark, klug, Wamphyri zu werden. Also aß er.
Er langte kräftig zu, spießte sich eine Scheibe Ziegenleber auf, die bei den Szgany immerhin als Delikatesse galt, und ließ ihr Gerechtigkeit widerfahren, indem er sie in die Hand nahm und mit den Zähnen daran zerrte. Sein Hunger war so groß, dass das Fleisch kein einziges Mal den Teller berührte! Eine weitere Scheibe folgte, darauf eine dampfende Niere. Er schaffte es, sie an einem Stück auf seinen Teller zu hieven, ohne dabei auch nur einen Tropfen Soße zu verlieren. Als Nächstes kamen ein Becher Wein und das zarte Fleisch vom Schenkel eines Wolfswelpen an die Reihe. Die Szgany aßen kein Wolfsfleisch, aber Nestor wusste ja nicht, woher es stammte. Außerdem hätte er es so oder so gegessen! Es war gut und verlieh ihm Kraft. Und während er aß, ließ er den Blick über seine Umgebung schweifen.
Der Große Saal war mehr als fünfundvierzig Meter lang, achtzehn Meter breit und verlief parallel zur südlichen Außenwand des Felsenturmes. In den massiven Fels waren Fenster gebrochen, die einen Blick auf den Abgrund boten, der sich über die Findlingsebene bis hin zum Grenzgebirge erstreckte. Stellenweise hatten diese Schießscharten ähnlichen Öffnungen in der Wand des Turmes beinahe die Ausmaße eines Tunnels. Wo das Gestein nicht ganz so tief war, bildeten sie regelrechte Torbögen, die zu aus Knochen geformten Balkons führten. Die Läden aus Haut und Knorpel ließen sich so zur Seite schlagen, dass sie das Rütteln des Windes dämpften. Durch eine dieser Öffnungen erblickte Nestor ein flatterndes Banner, das von Zeit zu Zeit Wrathas Wappen offenbarte, den Umriss eines knienden Mannes mit hängenden Schultern und gesenktem Haupt ...
Vor den Fenstern befanden sich Vorhänge aus schwarzem Fledermauspelz, die im Moment offen standen und das fahle Licht der Dämmerung einließen. Es würde noch Stunden dauern, ehe die Sonne die Wrathspitze erreichte. Wenn es so weit war, wären sie längst zugezogen. Doch von seinem Platz aus konnte Nestor, wenn er den Kopf ein bisschen drehte, die Morgennebel der Sonnseite sehen, wie sie die kargen, grauen Gipfel und Pässe verhüllten, zu Schleiern zerfaserten und schließlich davontrieben. Der Anblick war ihm nicht neu. Allerdings ... hatte er das Ganze früher von der anderen Seite aus beobachtet. Vielleicht empfand Nestor dabei – bei der fernen Erinnerung, bei dem Gedanken an die Vergangenheit, an die Sonnseite und daran, was er dort gewesen war – so etwas wie Wehmut für einen Abschnitt seines Lebens, der nun endgültig vorüber war und dem Vergessen anheim fiel. Doch solche Gefühle wurden nun zunehmend schwächer.
In zwei der zahlreichen Nischen des überwiegend asymmetrisch angelegten Saales verbargen Vorhänge den Blick auf Wrathas kleinere persönliche Leibwächter. Doch bei einer dritten hatte sie die Vorhänge absichtlich offen gelassen. Der Anblick der dort angeketteten Kreatur erinnerte ihre Gäste einmal mehr daran, wer in dieser schwindelnden Höhe das Sagen hatte. Das Wesen war doppelt so groß wie ein ausgewachsener Mann und neun Mal so schwer, gepanzert mit einander überlappenden, mehrere Zentimeter dicken Platten aus blau-grauem Chitin und bestand hauptsächlich aus Klauen, Kiefern und Zähnen. Der Tatsache zum Trotz, dass es einst ein Mensch oder vielmehr mehrere Menschen gewesen war, bewegte es sich wie ein Bär auf allen vieren. Dennoch erhob es sich hin und wieder auf die Hinterbeine, grunzte, gab fragende Laute von sich und rüttelte neugierig an seinen Ketten – allerdings nur aus reiner Gewohnheit.
Solange Tageslicht herrschte, die Sonne am Himmel stand und Wratha auf ihrem Lager ruhte, waren zwei dieser Bestien in den Treppenhäusern bei den Landebuchten postiert, während die dritte die Wrathspitze von oben bis unten durchstreifte. Dabei achtete sie hauptsächlich auf Eindringlinge aus der Luft, patrouillierte aber auch durch Wrathas Gemächer. Die Offiziere und Knechte der Lady, von denen einige auch zu einer derart unmöglichen Zeit ihren Pflichten
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