Totenbeschwörung
verlockender Kraft. Jeder Zentimeter ein wahrer Lord der Wamphyri! Komm, tritt näher!«
Er tat wie geheißen. »Canker hat nichts Düsteres an sich«, sagte er, »und er ist weder verlockend noch unheimlich, sondern einfach ein Ungeheuer. Gorvi ist dürr wie der Tod und hinterhältig bis zum Gehtnichtmehr. Einzig Wran entspricht der Vorstellung, die ich mir von einem wahren Lord der Wamphyri mache, und er ist zu dick und hat eine Warze am Kinn! Außerdem nehme ich an, dass er und Spiro nicht ganz richtig im Kopf sind. Alles in allem scheint mir an den Wamphyri nichts besonders Großartiges zu sein, jedenfalls nicht an diesem Haufen!«
»Aber ihre Leidenschaften sind großartig«, entgegnete sie leise. Ihre Stimme klang heiser, als sie ihm eine bebende Hand auf den Arm legte und das Pulsieren seines Blutes und das Spiel seiner Muskeln fühlte. »Und bin ich etwa nicht großartig?«
»Du bist sehr schön«, erwiderte er. »Zumindest dem Anschein nach. Allerdings habe ich gewisse ... Geschichten gehört.«
»Dem Anschein nach!? Geschichten!?« Mit einem Mal war ihre Stimme kalt und sie zog ihre Hand weg. »Was für Geschichten denn?« Wrathas Krieger spürte den Stimmungsumschwung seiner Herrin. Der Wächter ließ ein tiefes Grollen vernehmen und funkelte Nestor missmutig aus dem Dunkel des Turmes heraus an. Nestor wusste, dass ein einziger Wink Wrathas genügen würde, die Bestie auf ihn zu hetzen. Vorsichtshalber wich er einen Schritt zurück auf seinen Flugrochen zu, der nicht weit entfernt mit leerem Blick vor sich hin nickte.
»Es sind nur Gerüchte«, sagte er. »Darüber, wie du deine Augen unter diesem Knochenreif verbirgst. Über die blauen Kristalle an deinen Schläfen, die die Glut deines Blickes dämpfen, und über deinen Körper, der zwar aussieht wie der eines jungen Mädchens, in Wirklichkeit jedoch einer alten Frau gehören soll. Aye, all dies und noch mehr. So, wie ich die Sache sehe, darf man bei den Wamphyri, besonders bei ihren Ladys, nicht nach dem Äußeren gehen ...«
Einen Augenblick lang schwieg Wratha; dann sagte sie ohne jede Spur von Zorn:
»Jetzt hör mir einmal gut zu! In hundert Jahren, vielleicht auch zweihundert, wenn du Glück hast, wirst du ein alter Mann sein. Aber wirst du auch so aussehen? Natürlich nicht, denn du bist Wamphyri! Eitel, wie die meisten von uns sind, wirst du noch immer beinahe so aussehen wie jetzt. So wirst du dich nach außen geben! Und nichts anderes tue ich auch! Warum auch nicht!? Soll ich etwa voller Runzeln herumlaufen, wenn ich so aussehen kann wie jetzt? Vergiss nicht: Das Blut ist das Leben und es bedeutet auch Jugend! Ich habe nun mal die Gabe, ewig jung auszusehen, und ich nutze sie auch! Doch eines sage ich dir, mein hübscher Lord Nestor: Wratha war niemals ein hässliches altes Weib! Ich war schön und bin es noch immer! Doch ... du hast mir mit ziemlicher Deutlichkeit zu verstehen gegeben, dass du Schönheit nicht zu schätzen weißt. Also mach, dass du wegkommst!«
Ihre Stimme klang bitter. »Dieses Dach gehört mir, und ich habe dir nicht erlaubt, hier zu landen. Eigentlich sollte ich meinen Wächter auf dich hetzen!«
Sie machte Anstalten, sich abzuwenden, doch Nestor trat vor und ergriff, einer plötzlichen Eingebung folgend, ihre Hand. Sie fuhr herum und ... ließ sich in seine Arme sinken! In ihren von dem Knochenreif auf ihrer Stirn überschatteten Augen glomm ein Feuer, dessen Schein sich in den Verzierungen des Reifes brach. Sie senkte die Lider, ohne jedoch die lodernde Glut zu verbergen. Die Pelzstränge ihres Gewandes teilten sich, glitten von den Spitzen ihrer prallen, bebenden Brüste und enthüllten sie schließlich ganz. Ihr Atem war süß, als Nestor sich über sie beugte, um sie zu küssen. Süß wie Blut!
Die Hitze in ihm drohte ihn zu verzehren, während er sie küsste und ihre Brüste liebkoste. Wratha spürte sein Verlangen und erkannte die Gefahr, in der sie sich befand. Sie hatte nicht vor, sich hier oben, auf ihrem eigenen Dach, mit Gewalt nehmen zu lassen, nicht hier unter den verblassenden Sternen ... und schon gar nicht, wo unten in ihrem Gemach ein riesiges, leeres Bett bereitstand! Doch das musste warten! Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, sie sei leicht zu haben.
Als Nestors Küsse und Liebkosungen sie trotz ihrer gespielten Zurückhaltung zu überwältigen drohten, befreite sie sich aus seiner Umarmung und sandte völlig atemlos einen Gedanken aus: Komm her! Beschütze mich!
Auf diese kurze Distanz
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