Totenbeschwörung
der Sonnseite pflegen Vampiren einen Pflock durchs Herz zu treiben. Sie schneiden ihnen den Kopf ab und verbrennen sie dann. Und das machen sie mit bloßen Vampiren, bei denen es sich noch nicht einmal um Wamphyri handelt!«
All dies war Nestor bekannt. Es kam ihm in ebendem Moment in den Sinn, in dem der Leutnant seinen Satz beendete. Ihm war durchaus bewusst, wie die Szgany mit ihm umgesprungen wären, wenn sie ihn geschnappt hätten, nachdem er Brad Bereas mitten im Wald gelegenes Haus verlassen hatte; zumindest war er damals davon ausgegangen, dass sie genau dies mit ihm tun würden. Und nun kam er sich Zahar gegenüber wie ein Idiot vor. Doch wenn sein Leutnant schon so oberschlau war, vielleicht hatte er dann ja auch eine Vorstellung davon, was jetzt geschehen sollte. Also fragte Nestor ihn kurzerhand: »Was schlägst du vor?«
»Bring sie ins Grenzgebirge, und zwar sofort«, antwortete Zahar, ohne zu zögern. Er verspürte wenig Lust, zwei Herren gleichzeitig zu dienen respektive einem Herrn und einer Herrin. »Lass sie an einem Ort zurück, den in wenigen Stunden die Sonne erreicht. Dann ... ist es vollbracht.«
»Nein!«, entgegnete Nestor. »Du wirst sie dorthin bringen. Warum sollte ich mich damit abgeben, wo ich doch jemanden habe, der es für mich erledigen kann!«
Zahar verneigte sich. »Wie es beliebt, mein Lord.«
»Dann vorwärts!«
»Jawohl, mein Lord.« Damit wandte Zahar sich ab, um zu gehen, doch Nestor ergriff ihn am Arm.
»Warte! Führe mich zu ihr. Ich will noch einen letzten Blick auf diese Carmen werfen. Wenn ich schon ein Leben auslösche, dann möchte ich wenigstens wissen, um wen es sich handelt.«
Zahar führte ihn in das Gemach, in dem Carmen aufgebahrt war.
In Nestor regte sich keinerlei Mitleid, als er sie dort auf ihrer kalten, erhöht angebrachten Steinplatte liegen sah. Er hatte erwartet, dass er etwas dabei empfinden würde, und erinnerte sich daran, dass er dieses Gefühl, Mitleid, vor langer Zeit einmal gekannt hatte. Doch er hatte keine Ahnung mehr, wie es war. Carmen war nichts als ein Stück ... Fleisch.
Doch obwohl sie schon seit über hundert Stunden hier lag und der Wind ungehindert durch ein gewaltiges, drei Meter tief aus dem massiven Fels der Ostwand gehauenes Fenster blies, war sie keineswegs kalt. Beziehungsweise eigentlich schon, allerdings handelte es sich nicht um die Eiseskälte des Todes, sondern vielmehr um die graue, alterslose, dem Verfall entzogene, nicht enden wollende Kälte des Untodes.
»Wenn du ...«, begann Zahar und verstummte sofort wieder. »Hätte sich all dies vierundzwanzig Stunden früher ereignet, mein Lord, wäre sie jetzt bereits wieder auf den Beinen. Doch so kurz vor Sonnauf wird es noch eine Weile dauern, bis sie erwacht.« Er schwieg.
»Ich habe mit dieser Frau das Bett geteilt«, sagte Nestor grüblerisch.
»Du hast ihr den Tod gebracht, mein Lord.«
Endlich rang Nestor sich zu einem Entschluss durch. »Sie ist tot«, sagte er. »Verfahre mit ihr, wie du es mir vorgeschlagen hast.«
Er legte Carmen die Hand auf die Stirn und dachte: Leb wohl!
Waaaaaas?, erklang ihre Stimme in seinen Gedanken. Sie hörte sich an wie gesprungenes Glas. Lebe wooooohhhl? Aber ich gehe doch nirgendwohin, Nestor! Im Gegenteil, ich komme wiiieeeeder!
»Ahhh!« Mit einem Aufschrei fuhr Nestor zurück, und vor Schreck geriet er ins Wanken, als sei er betrunken. »Sie spricht zu mir!«
»Aber das ist unmöglich!« Erstaunt griff Zahar nach dem Arm seines Herrn. »Sieh sie dir doch an! Sie schläft, und sie wird so lange schlafen, bis die Verwandlung einsetzt oder die Sonne sie überrascht. Carmen ist tot, und zwar so lange, bis sie wieder erwacht oder endgültig den Tod findet.«
»Du Narr!«, wetterte Nestor und wies mit einer bebenden Hand auf die in Leintücher gehüllte Gestalt, die auf der als Bahre dienenden Steinplatte lag. »Wenn ich es dir sage! Sie hat zu mir gesprochen! Und sie ... weiß, wer ich bin!«
Oh, jaaaa. Ich weiß, was du für einer bist, meldete Carmen sich in seinen Gedanken zu Wort. Du bist Nestor von den Wamphyri und du versuchst mich umzubringen!
Doch bei dem bloßen Versuch sollte es nicht bleiben. »Schnapp sie dir!«, stieß Nestor, vor Schreck abermals zurücktaumelnd, hervor. »Pack sie, und dann ab ins Grenzgebirge! Du wirst das erledigen, Zahar, persönlich! Auf der Stelle! Und sieh zu, dass es auch gelingt!«
Zahar tat, wie ihm geheißen.
So hatte alles begonnen ...
In einer dunklen, feuchten Höhle am Fuß
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