Totenbuch
in seine Tastatur tippt.
Anschließend durchsucht sie seine Festplatte auf Dokumente. Bis auf die E-Mails
von Dr. Seif, die er sich auf den Bürocomputer kopiert hat, ist fast nichts zu
finden, was Lucy nicht weiter überrascht. Sie hätte Marino auch nicht
zugetraut, dass er zu Hause Fachartikel oder einen Roman verfasst. Mit dem
Schreibkram im Büro ist er schon voll und ganz ausgelastet. Nachdem Lucy den ursprünglichen
USB-Stick wieder in den Port gesteckt hat, sieht sich rasch im Zimmer um und
öffnet einige Schubladen: Zigaretten, einige Ausgaben des Playboy, eine .375er Magnum Smith & Wesson, ein paar
Dollar und Kleingeld, Belege und Werbepost.
Das Schlafzimmer ist so klein,
dass Marino sich vermutlich kaum darin umdrehen kann. Als Kleiderschrank dient
ihm eine zwischen die Wände am Fußende des Bettes geklemmte Stange, wo, dicht
zusammengedrängt und schlampig auf die Bügel geschoben, seine Sachen hängen.
Weitere Kleidungsstücke, auch seine zeltartigen Boxershorts und seine Socken,
liegen auf dem Boden. Sie bemerkt einen roten Spitzen-BH, einen schwarzen
Ledergürtel mit Nieten und einen aus Krokodilleder, die eindeutig zu klein für
ihn sind. In einer Butterdose aus Plastik befinden sich Kondome und
Schwanzringe. Das Bett ist ungemacht, und nur der Himmel weiß, wann die Wäsche
zuletzt gewechselt wurde.
Das Badezimmer daneben hat die
Größe einer Telefonzelle: Toilette, Dusche, Waschbecken. Lucy wirft einen
Blick ins Badezimmerschränkchen, wo sie wie erwartet Kosmetikartikel und Tabletten
gegen Kopfschmerzen und andere Unpässlichkeiten entdeckt. Sie greift nach einem
Döschen Fiorinal mit Kodein, das laut Aufkleber Shandy Snook verschrieben
worden ist. Es ist fast leer. Auf einem anderen Regalbrett liegt eine Tube
Testroderm, verordnet einem Patienten, dessen Namen Lucy noch nie gehört hat.
Sie tippt die Daten in ihr BlackBerry ein. Nachdem sie die Eingangstür wieder
eingehängt hat, geht sie die dunkle, wackelige Treppe hinunter. Der Wind hat
aufgefrischt, und sie hört ein leises Geräusch, das vom Steg her kommt. Lucy
zieht die Glock, lauscht und leuchtet mit ihrer Taschenlampe in die
entsprechende Richtung. Aber der Lichtstrahl reicht nicht weit genug, sodass
das Ende des Stegs in der undurchdringlichen Dunkelheit verschwindet.
Lucy steigt die Stufen zum Steg
hinauf. Sie sind alt und verzogen, und einige Bohlen fehlen. Sumpfgeruch
steigt ihr in die Nase. Als sie anfängt, nach den winzigen Moskitos zu
schlagen, fallen ihr die Worte eines Anthropologen ein: Es sei alles eine Frage
der Blutgruppe. Lästige Insekten wie Moskitos bevorzugten Menschen mit
Blutgruppe 0. Obwohl das auch Lucys Blutgruppe
ist, fragt sie sich noch immer, wie die Moskitos ihr Blut riechen, wenn sie gar
nicht blutet. Die Mücken umschwärmen sie, greifen sie an und stechen sie sogar
in die Kopfhaut.
Lautlos schleicht sie weiter und
lauscht, bis sie ein leises Poltern hört. Der Lichtkegel der Taschenlampe
gleitet über verwittertes Holz und verbogene, rostige Nägel. Eine Brise
flüstert im Sumpfgras. Die Lichter von Charleston wirken in der nach Schwefel
riechenden schwülen Luft sehr weit weg, und der Mond verbirgt sich hinter
dicken Wolken. Am Ende des Stegs angelangt, weiß Lucy endlich, woher das
beunruhigende Geräusch kommt: Marinos kleines Boot ist verschwunden. Die
grellorangefarbenen Bojen schlagen dumpf gegen die Pfosten.
14
Karen und Dr. Seif sitzen in der
Dämmerung auf der Vortreppe des Pavillons.
Im schummrigen Licht der
Außenbeleuchtung zieht Dr. Seif einen zusammengefalteten Zettel aus der Tasche
ihres Regenmantels, öffnet ihn und fördert einen Stift zutage. Vom Wald klingt
das hohe Surren der Insekten herüber. In der Ferne heult ein Kojote.
»Was ist das?«, fragt Karen.
»Wenn ich Gäste in meine Sendung
einlade, müssen sie dieses Dokument unterzeichnen. Darin erteilen sie mir die
Erlaubnis, sie vor laufender Kamera zu befragen und über sie zu sprechen. Niemand
kann Ihnen helfen, Karen. Das ist Ihnen doch sicher klar.«
»Ich fühle mich ein wenig
besser.«
»Das ist immer so, weil Sie hier
programmiert werden. Das haben die auch bei mir versucht. Es ist eine
Verschwörung. Deshalb haben sie mich auch gezwungen, mir die Aufnahmen von
meiner Mutter anzuhören.«
Karen greift nach der Vollmacht
und versucht, sie zu lesen. Aber es ist zu dunkel.
»Ich möchte unsere wunderbaren
und hilfreichen Gespräche und Erkenntnisse gern mit meinen Millionen von
Zuschauern überall auf der
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