Totenbuch
Welt teilen. Und dazu brauche ich Ihre Genehmigung.
Natürlich können Sie auch unter einem Pseudonym auftreten.«
»Aber nein! Ich würde mich
freuen, wenn Sie von mir erzählen und meinen wirklichen Namen nennen. Ich wäre
gern in Ihrer Show, Marilyn! Was für eine Verschwörung meinen Sie eigentlich?
Sind Sie sicher, dass ich auch davon betroffen bin?«
»Sie müssen das unterschreiben.«
Sie reicht Karen den Stift.
Karen gehorcht. »Sagen Sie mir
Bescheid, wenn Sie über mich sprechen, damit ich mir die Sendung anschauen
kann? Falls Sie das überhaupt tun. Meinen Sie, ich kann mir Hoffnungen machen?«
»Wenn Sie dann noch da sind.«
»Wie bitte?«
»Sie kommen sicher nicht gleich
in meiner ersten Sendung dran, Karen. Die handelt nämlich von Frankenstein und
empörenden Menschenversuchen. Ich werde berichten, wie ich gegen meinen Willen
unter Medikamente gesetzt, gequält, gedemütigt und in die Röhre gesteckt worden
bin. In einen riesigen Magneten, wie ich betonen muss. Dort musste ich mir die
Stimme meiner Mutter anhören. Sie haben mich gezwungen, mit anzuhören, wie sie
Lügen über mich verbreitet und mich mit Vorwürfen überhäuft hat. Es könnte also
Wochen dauern, bis Sie in meiner Sendung vorkommen. Hoffentlich sind Sie dann
noch da.«
»Soll das heißen, hier im
Krankenhaus? Ich werde nämlich morgen früh entlassen.«
»Ich meine, da.«
»Wo denn?«
»Wollen Sie eigentlich noch auf
dieser Welt sein, Karen? Hat man Sie je gefragt, ob Sie geboren werden wollen?
Das ist die wahre Frage.«
Mit zitternden Händen zündet
Karen sich eine Zigarette an. »Sie haben doch sicher meine Serie über Drew
Martin gesehen«, fährt Dr. Seif fort. »Eine Tragödie.«
»Ich sollte allen die Wahrheit
über ihren Trainer sagen. Mit Engelszungen habe ich versucht, es ihr
klarzumachen.“
»Was hat er denn getan?«
»Haben Sie schon einmal meine
Website besucht?«
»Nein. Ich hätte es aber tun
sollen.« Zusammengeduckt sitzt Karen auf der kalten Steinstufe und raucht.
»Was hielten Sie davon, wenn ich
Sie dort erwähnen würde, bis Sie in meine Sendung können?«
»Erwähnen? Heißt das, Sie würden
meine Geschichte erzählen?«
»In gekürzter Fassung. Es gibt
dort eine Seite mit dem Titel Selbstgespräch, in dem Menschen Blogs verfassen, über
sich schreiben und Nachrichten austauschen. Da natürlich nicht alle Teilnehmer
sehr stilsicher sind, beschäftigte ich Mitarbeiter, die die Texte überarbeiten
und umschreiben, sich Berichte diktieren lassen und Interviews führen. Erinnern
Sie sich noch, dass ich Ihnen bei unserer ersten Begegnung meine Karte gegeben
habe?«
»Ich habe sie noch.«
»Ich möchte, dass Sie Ihre
Geschichte an die dort aufgeführte E-Mail-Adresse schicken, damit wir sie ins
Netz stellen können. Sicher wird sie vielen Menschen Mut machen. Ganz im Gegensatz
zu dem Schicksal von Dr. Wesleys Nichte.«
»Von wem?«
»Eigentlich ist sie nicht
wirklich seine Nichte. Sie hat einen Gehirntumor. Dagegen sind sogar meine
Methoden machtlos.«
»O Gott. Das ist ja schrecklich.
Durch einen Gehirntumor kann man den Verstand verlieren, ohne dass es eine
Hoffnung auf Heilung gibt.«
»Im Internet können Sie alles
über sie lesen - ihre Krankengeschichte und dazu sämtliche Blogs. Sie werden
sich wundern«, sagt Dr. Seif, die eine Stufe über Karen sitzt, sodass sie die
frische Brise genießen kann, während der Zigarettenrauch in die andere Richtung
weht. »Der Bericht über Ihr Schicksal wird der Welt eine wichtige Botschaft
vermitteln. Wie oft waren Sie eigentlich schon in stationärer Behandlung?
Mindestens zehnmal. Warum immer ohne Erfolg?«
Dr. Seif stellt sich vor, dass
sie diese Frage ihrem Publikum stellt, während die Kameras sich auf ihr Gesicht
- eines der berühmtesten Gesichter der Welt - richten. Sie liebt ihren Namen:
Seif. Er gehört zu ihrer wichtigen Mission, und sie würde ihn niemals aufgeben.
Nie im Leben würde sie einen anderen Namen annehmen und ihn auch mit niemandem
teilen. Wer sich ihr in den Weg stellt, ist verloren. Denn nicht die
Fleischeslust ist die schlimmste aller Todsünden, sondern das Scheitern.
»Ich komme in Ihre Sendung, wann
immer Sie wollen. Bitte rufen Sie mich an. Ich kann jederzeit da sein«, sagt
Karen wieder und wieder. »Solange ich nur nicht ... darüber reden muss. Dass geht einfach nicht.«
Selbst damals, als Dr. Selfs
Phantasien greifbar wurden, ihr Denken magische Dimensionen annahm und sie
begann, Vorahnungen zu haben, hätte sie
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