Totenbuch
...«
Puls einhundertvierunddreißig.
Sauerstoffgehalt auf fünfundneunzig gesunken. Dr. Selfs Füße zucken. Noch neun
Sekunden. Die Stimme der Mutter aktiviert Neuronen im Gehirn der Tochter. Blut
strömt in diese Neuronen, und je mehr es wird, desto stärker zeigt der Scanner
eine Zunahme des sauerstoffarmen Blutes an. Die funktionalen Abbildungen machen
deutlich, dass Dr. Seif unter körperlichem und emotionalem Druck steht. Das ist
kein Theater.
»Mir gefallen ihre Werte nicht.
Genug. Wir machen Schluss«, sagt Benton zu Dr. Lane. »Einverstanden.«
»Dr. Seif, wir hören auf«,
spricht er in die Gegensprechanlage.
Während Lucy mit Benton
telefoniert, holt sie aus einem abgeschlossenen Schrank im Computerlabor einen
Werkzeugkasten, einen USB-Stick und eine kleine schwarze Schachtel.
»Frag lieber nicht«, erwidert
er. »Wir haben die MRI-Aufnahmen gestoppt oder mussten sie besser gesagt
abbrechen. Ich darf dir nichts darüber erzählen, hätte aber trotzdem eine Bitte
an dich.«
»Schieß los.« Lucy lässt sich an
einem Computerterminal nieder. »Du musst mit Josh reden und dich in unser Netz
einklinken.“
»Was brauchst du?«
»Eine Patientin lässt ihre
E-Mails auf den Server des Pavillons weiterleiten.“
»Na und?«
»Auf diesem Server befinden sich
außerdem verschiedene Dateien. Eine bezieht sich auf eine Person, die sich an
den klinischen Direktor des Pavillons gewandt hat. Du weißt, wen ich meine.«
»Und weiter?«
»Er hat die Person, für die wir
uns interessieren, im letzten November in Rom gesehen«, spricht Benton in die
Telefonmuschel. »Ich kann dir nur verraten, dass besagter Patient im Irak
gekämpft hat. Offenbar hat Dr. Seif ihn überwiesen.«
»Und?« Lucy loggt sich ins
Internet ein.
»Josh ist gerade mit den
Aufnahmen fertig, die abgebrochen wurden. Die Versuchsperson verlässt uns heute
Abend, was bedeutet, dass es keine weitergeleiteten E-Mails mehr geben wird.
Die Zeit läuft uns davon.«
»Ist die fragliche Person noch
bei euch?«
»Momentan schon. Josh ist
bereits nach Hause gegangen. Er hatte es sehr eilig, weil sein Kind krank ist.«
»Wenn du mir dein Passwort
gibst, kann ich ins Netzwerk rein«, erwidert Lucy. »Das macht es leichter.
Allerdings hast du dann etwa eine Stunde lang keinen Zugriff.«
Sie erreicht Josh unter seiner
Mobilfunknummer. Er sitzt gerade im Auto und ist auf dem Heimweg.
Ausgezeichnet. Lucy erklärt ihm, Benton könne seine E-Mails nicht abfragen,
weil etwas mit dem Server nicht in Ordnung sei. Sie müsse es sofort in Ordnung
bringen, es werde jedoch eine Weile dauern. Obwohl es auch aus der Entfernung
möglich sei, brauche sie dazu das Passwort des Systemadministrators. Die
Alternative wäre, dass Josh umkehrt und sich selbst darum kümmert. Das jedoch kommt
für Josh überhaupt nicht in Frage. Er erzählt Lucy von seiner Frau und seinem
Kind und meint, es wäre prima, wenn sie das für ihn erledigen könne.
Schließlich arbeiten sie schon so lange in Computerangelegenheiten zusammen,
dass er niemals auf den Gedanken käme, sie könne die E-Mails eines Patienten
und Dr. Maronis vertrauliche Unterlagen einsehen wollen. Und falls Josh doch
vom Schlimmsten ausgehen sollte, traut er ihr zu, dass sie sich ohnehin
einfach einhacken würde, wenn er nicht mitspielt. Schließlich weiß er, wozu
sie fähig ist und womit sie ihr Geld verdient.
Allerdings hat Lucy nur wenig
Lust, im Netzwerk von Bentons Krankenhaus herumzuwühlen, ganz abgesehen davon,
dass es viel zu lange dauern würde. Schon eine Stunde später ruft sie Benton
zurück. »Ich habe keine Zeit, das Zeug zu lesen«, sagt sie. »Das überlasse ich
dir. Ich habe alles an dich weitergeleitet. Dein E-Mail-Programm läuft wieder.«
Als sie das Labor verlässt und
auf ihrer MV Agusta Brutale davonfährt, ist sie gleichzeitig besorgt und
wütend. Dr. Seif hält sich im McLean Hospital auf, und zwar schon seit knapp
zwei Wochen. Ein schöner Mist. Und Benton hat es gewusst.
Obwohl ihr klar ist, warum
Benton zum Stillschweigen verpflichtet ist, findet sie es nicht richtig. Dr.
Seif und Marino korrespondieren per E-Mail. Und währenddessen sitzt diese Frau
genau vor Bentons Nase im McLean Hospital, ohne dass er es für nötig hielte,
Marino oder Scarpetta zu warnen. Auch Marinos und Shandys kleinen Ausflug in
die Autopsie, aufgezeichnet von den Überwachungskameras, hat er mit keinem
Wort erwähnt. Und Lucys Bemerkungen über Marino und seine E-Mails an Dr. Seif
waren ihm ebenfalls
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