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Totenbuch

Totenbuch

Titel: Totenbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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keine Antwort wert. Jetzt fühlt Lucy sich verraten und
benutzt. Während Benton offenbar nicht die geringsten Skrupel hat, sie zu
bitten, in vertrauliche Dateien einzudringen, verheimlicht er ihr gleichzeitig,
dass Dr. Seif seine Patientin ist, gemütlich in einem Einzelzimmer im Pavillon
residiert und dreitausend Dollar täglich dafür hinblättert, alle Beteiligten
an der Nase herumführen zu können.
    Als Lucy auf ihrer Maschine im
sechsten Gang an den Autos auf der Arthur Ravenel Jr. Bridge vorbeibraust,
fühlt sie sich von den hohen Pfeilern und den senkrecht verlaufenden Tauen an
das Stanford-Krebszentrum und die Dame erinnert, die auf der Harfe so gar
nicht ins Umfeld passende Lieder spielt. Marino mag ein hoffnungsloser Fall
sein, doch er hat es nicht verdient, von Dr. Seif ausgetrickst zu werden. Er
ist schlicht und ergreifend zu einfach strukturiert, um eine Neutronenbombe auf
zwei Beinen wie sie zu begreifen. Verglichen mit Dr. Seif ist Marino ein großer
dummer Junge mit einer Steinschleuder in der Hosentasche. Vielleicht hat er ja
die Initiative ergriffen und ihr zuerst eine E-Mail geschickt. Allerdings hat niemand
Dr. Seif gezwungen, darauf zu antworten. Offenbar will sie sich rächen, indem
sie Marino den Todesstoß versetzt.
    Lucy rast an den Booten der
Krabbenfischer vorbei, die im Shem Creek vor Anker liegen, und überquert die
Ben Sawyer Bridge nach Sullivan's Island, wo Marino wohnt. Anfangs sprach er
immer von seinem Traumhaus - eine winzige heruntergekommene Fischerhütte auf
Stelzen mit einem roten Metalldach. Die Fenster sind dunkel, nicht einmal die
Außenbeleuchtung brennt. Hinter der Hütte führt ein langer Steg in den Sumpf
und endet an einem schmalen Bach, der irgendwo im Intracoastal Waterway mündet.
Bei seinem Einzug hat Marino sich ein kleines Boot gekauft, die Seitenarme
erkundet und geangelt. Manchmal ist er auch einfach nur herumgefahren und hat
Bier getrunken. Lucy weiß nicht, was in letzter Zeit mit ihm los ist. Was ist bloß aus ihm
geworden? Lebt ein Fremder in seinem Körper?
    Der kleine Vorgarten besteht aus
einem mit dürrem Unkraut überwucherten Sandflecken. Unter dem Pfahlbau türmt
sich der Müll: alte Kühlboxen, ein verrosteter Grill, Krabbenfallen, vergammelte
Fischernetze und Mülltonnen, denen ein modriger Geruch entsteigt. Lucy geht die
verzogene Treppe hinauf und rüttelt an der Tür, von der die Farbe abblättert.
Das Schloss ist zwar recht altersschwach, aber sie will es nicht aufbrechen
und beschließt, die Tür aus den Angeln zu heben. Ein Schraubenzieher genügt,
und schon kurz darauf steht Lucy in Marinos Traumhaus. Eine Alarmanlage hat er
nicht, da er meint, dass seine Waffen Abschreckung genug sind.
    Als sie an der Schnur der
Glühbirne zieht, die von der Decke baumelt, entsteht ein Wechselspiel aus
grellem Licht und unregelmäßigen Schatten. Lucy überlegt, was sich seit ihrem
letzten Besuch hier verändert hat. Wann war das? Vor sechs Monaten? Es ist
nichts Neues hinzugekommen, so als hätte Marino schon vor einer Weile
aufgehört, das Haus mit Leben zu erfüllen. Das Wohnzimmer hat einen nackten
Holzboden und ist mit einem billigen karierten Sofa, zwei Holzstühlen, einem
großen Fernseher, einem Computer und einem Drucker möbliert. An der Wand steht
eine Küchenzeile, die Arbeitsfläche zieren einige leere Bierdosen und eine
Flasche Jack Daniel's. Der Kühlschrank enthält massenweise Aufschnitt, Käse und
noch mehr Bier.
    Lucy setzt sich an Marinos
Schreibtisch und zieht den USB-Stick, der an einer Kordel hängt, aus dem Port.
Dann holt sie eine spitz zulaufende Pinzette, einen winzigen Schraubenzieher
und einen Akkubohrer - alles Miniaturausgaben wie aus der Werkstatt eines
Juweliers - aus ihrem Werkzeugkasten. In der kleinen Schachtel befinden sich
vier Abhörwanzen, jede mit kaum acht Millimeter Durchmesser etwa so groß wie
eine Aspirintablette. Nachdem Lucy die Plastikummantelung des USB-Sticks
entfernt hat, nimmt sie die Unterseite mit der Kordel ab und versteckt eine der
Wanzen so, dass die metallene Spitze in dem Loch verschwindet, wo die Kordel
ursprünglich befestigt war. Der Bohrer summt leise, als sie unten in die Hülle
ein zweites Loch bohrt, in dem sie die Befestigungsschraube der Kordel
verankert.
    Danach kramt sie einen zweiten
USB-Stick - den aus ihrem Labor - aus einer Tasche ihrer Cargohose und steckt
ihn in den USB-Port. Sie lädt eine selbstentwickelte Spyware herunter, die
alles an ihr E-Mail-Konto senden wird, was Marino

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