Totenbuch
sich so etwas niemals träumen lassen.
Ich bin Dr. Marilyn Seif. Willkommen bei Self on
Self. SOS. Brauchen Sie Hilfe? Zu Beginn jeder Sendung ertönt tosender Applaus vom
Studiopublikum, während Millionen Zuschauer weltweit vor ihren Fernsehern
sitzen.
»Sie werden mich doch nicht
zwingen, darüber zu sprechen, oder? Meine Familie
würde es mir nie verzeihen. Deshalb kann ich auch nicht mit dem Trinken
aufhören. Ich verrate es Ihnen, wenn ich es nicht im Fernsehen oder auf Ihrer
Website wiederholen muss.« Karen redet und redet und verzettelt sich immer
mehr.
Danke, danke. Manchmal kann Dr. Seif die Zuschauer kaum zur Ruhe bringen. Ich finde Sie
alle großartig.
»Ich hatte eine
Boston-Terrier-Hündin. Sie hieß Bandit. Eines Abends habe ich sie noch spät
rausgelassen und sie dann vergessen, weil ich so betrunken war. Es war Winter.«
Applaus, der klingt wie
prasselnder Regen. Tausende von klatschenden Händen.
»Am nächsten Morgen habe ich sie
tot an der Hintertür gefunden. Das Holz war ganz zerkratzt, weil sie versucht
hatte, ins Haus zu kommen. Meine arme kleine Bandit mit ihrem kurzen Fell. Sie
hat gezittert, geheult und gebellt, da bin ich ganz sicher. Sie wollte ins
Haus, weil sie fror.« Karen schluchzt. »Und deshalb betäube ich mein Gehirn,
damit ich nicht denken muss. Es heißt, ich hätte weiße Stellen und verbreiterte
... tja, es verkümmert. Ein schöner Tod, Karen, sage ich mir. Du zerstörst dein
Gehirn. Man kann ganz deutlich erkennen, dass ich nicht normal bin.« Sie berührt
ihre Schläfe. »Ich habe es im Leuchtkasten beim Neurologen gesehen. Mein Gehirn
ist abnormal, daran führt kein Weg vorbei.
Ich werde niemals normal sein.
Jetzt bin ich fast sechzig, und der Schaden ist nicht mehr rückgängig zu
machen.«
»Wenn es um Hunde geht, können
die meisten Menschen nicht verzeihen«, sagt Dr. Seif geistesabwesend.
»Ich weiß. Was soll ich tun, um
darüber hinwegzukommen? Bitte, geben Sie mir einen Rat.«
»Geisteskranke weisen Besonderheiten
in der Schädelform auf. So haben Verrückte beispielsweise verengte oder
deformierte Schädel«, sagt Dr. Seif. »Maniker leiden an Gehirnerweichung.
Diese Erkenntnisse wurden 1824 im Rahmen einer Pariser Studie gewonnen, bei der man
einhundert Idioten und Geistesschwache untersuchte. Nur vierzehn von ihnen
hatten normale Schädel.«
»Soll das heißen, dass ich
geistesschwach bin?«
»Klingt das denn so anders als
das, was die Ärzte Ihnen bis jetzt erzählt haben, nämlich dass Ihr Kopf sich
von den Köpfen Ihrer Mitmenschen unterscheidet?«
»Ich soll geistesschwach sein?
Ich habe meinen Hund getötet.«
»Abergläubische und falsche
Vorstellungen wie diese kursieren schon seit Jahrhunderten. Man vermaß die
Schädel der Insassen von Irrenanstalten und sezierte die Gehirne von Idioten
und Geistesschwachen.«
»Ich bin geistesschwach?«
»Heutzutage wird man in eine
Zauberröhre gesteckt - einen Magneten -, muss sich dabei Tonbandaufnahmen von
seiner Mutter anhören und kriegt dann gesagt, man hätte ein deformiertes
Gehirn.« Dr. Seif verstummt, als eine hochgewachsene Gestalt zielstrebig durch
die Dunkelheit auf sie zusteuert.
»Karen, wenn Sie nichts dagegen
haben, würde ich gern allein mit Dr. Seif sprechen«, sagt Benton Wesley.
»Bin ich geistesschwach?«, fragt
Karen beim Aufstehen.
»Natürlich nicht«, erwidert
Benton freundlich.
Karen verabschiedet sich von
ihm. »Sie waren immer nett zu mir«, sagt sie. »Morgen fliege ich nach Hause und
komme nicht zurück.«
Dr. Seif fordert Benton auf,
neben ihr auf den Stufen Platz zu nehmen. Doch er lehnt ab. Sie spürt, dass er
wütend ist - wieder ein Triumph.
»Ich fühle mich schon viel
besser«, verkündet sie.
Im Spiel zwischen Schatten und
den Lichtkegeln der Laternen wirkt er völlig verändert.
Sie hat ihn noch nie bei
Dunkelheit gesehen und findet das Ergebnis sehr faszinierend.
»Ich bin neugierig, was Dr.
Maroni und Kay dazu sagen würden«, beginnt sie. »Es erinnert mich an die
Frühlingsferien am Strand. Ein junges Mädchen bemerkt einen attraktiven jungen
Mann. Und dann? Ihm fällt sie auch auf. Sie sitzen im Sand, waten durchs Wasser,
spritzen einander nass und tun, was ihnen gefällt, bis die Sonne aufgeht. Es
kümmert sie nicht, dass sie nass und klebrig sind, vom Salzwasser und
voneinander. Wo ist der Zauber geblieben, Benton? Altwerden bedeutet, dass
nichts mehr genügt. Man ahnt, dass man den Zauber nie wieder empfinden wird.
Ich weiß, was der Tod
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