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Totenbuch

Totenbuch

Titel: Totenbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Mädchen war so schön, so bleich und wohlgeformt wie aus
Quarz geschnitten. Aber sie war traurig, denn ihr Geliebter hatte sie wegen
einer anderen verlassen.
    »Was ist Besonderes an dir, dass du so vertraut mit
diesem Ort bist?«, fragte sie Will. »Ein endloses Labyrinth aus Stein, drei
Kilometer tief in der Erde. Es wäre schrecklich, sich hier unten zu verirren.
Ob das wohl schon einmal passiert ist? Wenn sie schließen und das Licht
ausgeht, ist es hier sicher stockfinster und kalt.«
    Er konnte die Hand nicht vor
Augen sehen. Nur ein grelles Rot, während der Sand auf sie einpeitschte, bis er
glaubte, es würde ihm jeden Fetzen Haut vom Leibe reißen.
    »Will! Oh, Gott, hilf mir. Will!«
Rogers Schreie mischten sich mit dem Kreischen der Schulkinder ein paar Gänge
weiter. Dann verstummte das Tosen des Sturms.
    Wasser tropfte. Ihre Schritte
schmatzten auf dem Boden.
    »Warum reibst du dir dauernd die
Augen?«, fragte sie.
    »Ich könnte den Weg auch ohne
Licht finden. Ich sehe sehr gut, wenn es dunkel ist, und war als Kind oft hier.
Heute bin ich dein Führer.« Er ging sehr sanft und einfühlsam mit ihr um, weil
er verstand, dass sie den Verlust kaum ertragen konnte. »Schau, wie das Licht
durch den Stein schimmert. Er ist glatt und kräftig wie Muskeln und Sehnen.
Und die Kristalle haben das wächserne Gelb von Knochen. Hinter dem schmalen
Gang liegt der Dom von Mailand, so grau, feucht und kalt wie das Gewebe einer
alten Leiche.«
    »Meine Schuhe und meine Hose sind
schon voller Kalkspritzer. Es sieht aus wie weiße Farbe. Du hast mir die
Klamotten ruiniert.«
    Ihre Beschwerden ärgerten ihn. Er
zeigte ihr einen natürlichen Teich, auf dessen Grund grüne Münzen lagen, und
fragte sich laut, ob wohl einer der Wünsche wahr geworden sei. Sie warf auch
eine Münze hinein, die ins Wasser platschte und rasch versank.
    » Wünsch dir, was du willst«,
sagte er zu ihr. »Aber es wird nie in Erfüllung gehen. Und wenn doch, ist es
Pech für dich.«
    »Wie kannst du so etwas
Schreckliches sagen!«, rief sie. »Es ist doch kein Pech, wenn ein Wunsch in
Erfüllung geht. Außerdem weißt du ja gar nicht, was ich mir gewünscht habe.
Vielleicht habe ich mir ja gewünscht, mit dir zu schlafen. Oder bist du etwa
nicht gut im Bett?«
    Er antwortete nicht, doch seine
Wut wuchs, denn wenn sie miteinander schliefen, würde sie seine nackten Füße
sehen. Das letzte Mal hatte er im Irak Sex, und zwar mit einer Zwölfjährigen,
die weinte und schrie und mit ihren kleinen Fäusten auf ihn einschlug.
Irgendwann wurde sie still und schlief ein. Er hat deshalb nie etwas empfunden,
denn schließlich hatte sie keine Zukunft vor sich, kein Leben, auf das sie sich freuen konnte. Ihr Land lag in
Trümmern, und die Menschen starben wie die Fliegen. Während das Wasser
weitertropfte, verblasste ihr Gesicht in seiner Erinnerung. Die Pistole in
seiner Hand. Rogers Schreie, weil er den Schmerz nicht mehr ertragen konnte.
    In der Kuppelhöhle waren die Steine rund wie
Schädel. Das Wasser tropfte und tropfte, als hätte es geregnet. Steinerne
Wülste, Zapfen und Sporen funkelten im Kerzenschein. Er verbot ihr, sie zu
berühren.
    »Wenn du sie anfasst, werden sie schwarz wie Ruß«,
warnte er. »Das ist offenbar mein Schicksal«, erwiderte sie. »Alles, was ich
anfasse, wird zu Scheiße.«
    »Du wirst mir dankbar sein«, sagte er. »Wofür?«, gab
sie zurück.
    Im Korridor der Rückkehr war es feuchtwarm. Wasser
rann die Wände hinunter wie Blut. Er hielt die Pistole in der Hand, nur eine
Fingerkrümmung trennte ihn vom Ende der Dinge, die er über sich wusste. Falls
Roger sich noch bei ihm hätte bedanken können, er hätte es getan.
    Ein kleines Dankeschön, und eine Wiederholung
erübrigt sich. Doch die Menschen sind undankbar und nehmen einem alles weg, was
Bedeutung haben könnte. Nach einer Weile interessiert es einen nicht mehr.
Irgendwann wird es gleichgültig.
     
    Ein rotweiß gestreifter
Leuchtturm, gebaut kurz nach dem Krieg und inzwischen ohne Leuchtfeuer, ragt
einsam etwa einhundert Meter vom Ufer entfernt aus dem Meer.
    Will schmerzen die Schultern vom
Rudern, und auf der harten Fiberglasbank schläft ihm der Hintern ein. Es ist
ziemlich anstrengend, weil seine Ladung fast so viel wiegt wie das flache Boot
selbst. Da er sein Ziel ohnehin fast erreicht hat, wird er den Außenbordmotor
nicht mehr anwerfen. Das tut er nie, denn der Motor macht Lärm, was er nicht
gebrauchen kann, auch wenn kein Mensch in der Nähe ist, der ihn

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