Totenbuch
einmal mit diesen dämlichen Hormonen einen hoch!«
»Halt doch das Maul, Shandy. Ich
habe genug davon, mich von dir runterputzen zu lassen, kapiert? Ich bin nicht
die Flasche, für die du mich hältst. Warum haust du nicht ab, wenn ich so ein
Idiot bin? Ich brauche Platz und Zeit zum Nachdenken. Momentan ist alles ein
totales Chaos. Bei der Arbeit läuft es beschissen. Ich rauche wieder, treibe
keinen Sport mehr, trinke zu viel und nehme Medikamente. Mein Leben geht den
Bach runter. Und du tust nichts weiter, als mich immer tiefer reinzureiten.«
Sein Mobiltelefon läutet. Da er
das Gespräch nicht annimmt, klingelt es immer weiter.
»Geh endlich ran!«, zischt Lucy,
während schwere Regentropfen vom Himmel fallen.
»Ja«, hallt seine Stimme in
ihrem Kopfhörer.
Gott sei Dank. Eine Weile lauscht Marino wortlos. »Das
kann nicht sein«, sagt er schließlich zu Scarpetta.
Obwohl Lucy Scarpettas Antwort
nicht hören kann, weiß sie, was sie sagt. Sie erklärt Marino, NIBIN und IAFIS hätten, was die Seriennummer des
.38er Colt und die Fingerabdrücke an Waffe und Patronen, die Bull in der Gasse
gefunden hat, angeht, keinen Treffer erbracht.
»Und was ist mit ihm?«, fragt Marino.
Die Rede ist von Bull. Scarpetta
kann diese Frage nicht beantworten, denn da Bull kein verurteilter Straftäter
ist, sind seine Fingerabdrücke natürlich nicht in IAFIS eingespeichert. Seine vorläufige
Festnahme vor ein paar Wochen zählt nicht. Falls der Colt tatsächlich ihm
gehört, aber weder gestohlen ist noch je bei einer Straftat verwendet wurde und
danach wieder in Umlauf geraten ist, ist darüber in NIBIN nichts zu finden. Scarpetta hat Bull
bereits erklärt, dass es hilfreich wäre, wenn er sich zu Vergleichszwecken die
Fingerabdrücke abnehmen ließe. Doch bis jetzt hat er noch nicht die Zeit dazu
gefunden. Ihn daran zu erinnern ist ihr auch noch nicht gelungen, da sie ihn
nicht erreichen kann. Seit der Untersuchung von Lydia Websters Haus haben sie
und Lucy schon mehrmals bei ihm angerufen. Laut Aussage seiner Mutter ist er
mit dem Boot unterwegs, um Austern zu fischen. Warum er das ausgerechnet bei
diesem Wetter tut, ist allerdings rätselhaft.
»Hmmmm.« Marinos Stimme hallt in
Lucys Ohr. Er geht im Zimmer auf und ab. Offenbar kann er in Shandys Gegenwart
nicht frei sprechen.
Der Plan ist, dass Scarpetta
Marino von dem teilweise erhaltenen Fingerabdruck auf der Goldmünze erzählt.
Vielleicht tut sie das ja gerade, denn er schnappt überrascht nach Luft.
»Schön, das zu wissen«, brummt
er dann.
Danach schweigt er wieder, und
Lucy hört ihn hin und her tigern. Schließlich nähert er sich dem Computer mit
dem USB -Stick, und ein Stuhl scharrt über den
Boden, so als nähme er Platz. Shandy ist still. Vermutlich versucht sie zu erraten,
worüber er redet und mit wem.
»Gut«, erwidert er nach einer
Weile. »Können wir das später besprechen? Ich bin gerade beschäftigt.«
Nein. Lucy ist sicher, dass ihre Tante ihn zwingen wird, beim
Thema zu bleiben oder ihr wenigstens zuzuhören. Sie wird das Gespräch nicht
beenden, ohne ihn zuvor daran zu erinnern, dass er seit einer Woche einen alten
Morgan-Silberdollar an einer Kette um den Hals trägt. Vielleicht besteht ja ein
Zusammenhang zu der Goldmünze - ebenfalls an einer Kette -, die sich irgendwann
in der Hand des toten kleinen Jungen befunden haben muss, der nun in Scarpettas
Kühlkammer liegt. Wo mag Marino diese protzige neue Kette herhaben? Allerdings
erhält sie keine Antwort auf ihre Frage. Das ist auch schlecht möglich, weil
Shandy neben ihm steht und lauscht. Während Lucy in der Dunkelheit wartet, der
Regen ihre Kappe durchweicht und das Wasser ihr in den Kragen ihrer Nylonjacke
sickert, denkt sie an das, was Marino ihrer Tante angetan hat. Das gnadenlose,
taube Gefühl meldet sich zurück.
»Ja, schon gut, kein Problem«,
sagt Marino. »Wie ein reifer Apfel vom Baum.«
Lucy nimmt an, dass ihre Tante
sich bei ihm bedankt. Ein Witz, dass sie ihm dankbar sein muss! Wie zum Teufel
kann sie sich bei ihm für irgendetwas bedanken? Lucy kennt zwar den Grund, aber
es widert sie dennoch an. Scarpetta ist froh, dass Marino bereit war, sich
Madelisa vorzuknöpfen, denn nun wissen sie, dass der Basset bei ihr ist.
Außerdem hat sie Marino die Shorts mit den Blutflecken gezeigt. Der Hund hatte
Blut am Fell. Und dass Madelisa sich die Hände an den Shorts abwischen musste,
heißt, dass es noch frisch war. Also ist sie unmittelbar nach dem Verbrechen am
Tatort
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