Totenbuch
Sodiumhydroxid-Lösung aus der braunen
Flasche hinzu.
Dann fängt sie an zu sprühen.
Überall im Raum entsteht ein Muster aus leuchtend kobaltblauen Flecken,
Schmierern und Formen. Einige Zeit später, Scarpetta ist inzwischen mit dem
Aufräumen fertig und packt gerade ihren Tatortkoffer zusammen, läutet ihr Mobiltelefon.
Es ist der Fingerabdruck-Experte aus Lucys Labor.
»Sie werden es nicht glauben«,
beginnt er.
»Sie dürfen niemals ein Gespräch
mit diesem Satz anfangen, wenn Sie es nicht ernst meinen.« Scarpetta macht
keine Witze.
»Es geht um den Abdruck auf der
Goldmünze.« Der Mann ist aufgeregt und spricht schnell. »Wir haben eine
Übereinstimmung festgestellt, und zwar mit den Fingerspuren des nicht
identifizierten kleinen Jungen, der auf Hilton Head gefunden wurde.«
»Sind Sie sicher? Da müssen Sie
sich vertan haben. Das ist unmöglich.«
»Es besteht aber kein Zweifel.«
»Wollen Sie sich wirklich darauf
festlegen? Ich vermute eher, dass ein Irrtum vorliegt«, entgegnet Scarpetta.
»Ausgeschlossen. Ich habe alles
mit den Fingerabdrücken auf der Karte verglichen, die Marino der Leiche in der
Autopsie abgenommen hat, und alles noch einmal mit eigenen Augen überprüft.
Die Details des teilweise erhaltenen Fingerabdrucks auf der Münze stimmen mit
dem Abdruck des rechten Daumens des Jungen überein. Irrtum ausgeschlossen.«
»Ein Fingerabdruck auf einer
Münze, die mit Leim bedampft wurde? Ich begreife nicht, wie das möglich sein
kann.«
»Glauben Sie mir, ich verstehe
Ihre Zweifel. Schließlich ist allgemein bekannt, dass die Fingerabdrücke von
Kindern vor der Pubertät nicht haltbar genug sind, um sie zu bedampfen, weil
sie hauptsächlich aus Wasser bestehen, also aus Schweiß anstelle von den
Fetten, Aminosäuren und anderen Substanzen, die sich erst bei Erwachsenen
finden. Ich jedenfalls habe noch nie die Fingerabdrücke eines Kindes bedampft
und es bis jetzt auch für unmöglich gehalten. Aber der Abdruck stammt von
einem Kind, und zwar zweifelsfrei von dem, das bei Ihnen in der Autopsie
liegt.«
»Vielleicht hat es sich ganz
anders abgespielt. Ob die Münze doch nicht bedampft worden ist?«, wendet
Scarpetta ein.
»Muss sie aber. Denn in die
Rillen hat sich eine Substanz eingeprägt, die eindeutig nach Superglue
aussieht. Eben so, als wäre die Münze bedampft worden.«
»Möglicherweise hatte der Junge
ja Leim an den Fingern, als er die Münze angefasst hat«, meint Scarpetta. »So
könnte der Fingerabdruck auch zustande gekommen sein.«
Neun Uhr abends. Heftiger Regen
prasselt auf die Straße vor Marinos Fischerhütte.
Lucy ist klatschnass, als sie
den mit einem drahtlosen Empfänger verbundenen, als iPod getarnten MP3-Recorder
einschaltet. In genau sechs Minuten wird Scarpetta Marino anrufen. Im Moment
streitet er mit Shandy. Jedes Wort der Auseinandersetzung wird von der im
USB-Stick in seinem Computer versteckten Wanze aufgefangen.
Schwere Schritte. Die
Kühlschranktür geht auf. Das Ploppgeräusch einer Dose, die geöffnet wird.
Wahrscheinlich Bier.
Shandys zornige Stimme schrillt
in Lucys Kopfhörer. »... Lüg mich nicht an. Ich warne dich. So plötzlich? Aus
heiterem Himmel beschließt du, dass du doch keine feste Beziehung willst? Wer
behauptet übrigens, dass ich auf eine Beziehung mit dir scharf bin? Ein
Arschloch wie dich sollte man in die Klapse einweisen. Vielleicht kann der
Verlobte deiner großen Chefin dir ja einen Sonderpreis für ein Zimmer machen.«
Er hat ihr von Scarpettas
Verlobung mit Benton erzählt. Shandy trifft zielsicher Marinos Schwachstellen,
was bedeutet, dass sie seine wunden Punkte sehr gut kennen muss. Lucy fragt
sich, wie oft sie dieses Wissen schon gegen ihn verwendet und ihn damit gequält
hat.
»Ich bin nicht dein
Privateigentum. Und da ich keine Lust habe, zu warten, bis du mich satthast,
ist es wohl besser, wenn ich dich zuerst rausschmeiße!«, brüllt er. »Du tust
mir nicht gut. Nur deinetwegen habe ich angefangen, diese dämlichen Hormone zu
neh men. Ein Wunder, dass ich noch keinen Schlaganfall hatte.
Schau, was in einer guten Woche alles passiert ist. Was wird wohl in einem
Monat sein? Hast du für mich schon einen Friedhof ausgesucht? Oder legst du es
vielleicht darauf an, dass ich im Knast lande, weil ich irgendwann durchknalle
und Mist baue?«
»Vielleicht hast du ja schon
Mist gebaut.«
»Ach, verpiss dich!«
»Was will ich eigentlich von
einem altersschwachen, verfetteten Wichser wie dir? Du kriegst ja nicht
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