Totenbuch
geht, weil ich meistens gleich weiß, wer der Täter
ist. Doch nach dem, was mir jetzt passiert ist, kann ich gewalttätige Filme
nicht mehr ertragen.«
»Wenn Sie so viele Krimis sehen,
kennen Sie sich bestimmt gut mit Spurensicherung aus«, fährt Marino fort.
»Als ich vor einem Jahr
Geschworene war, wusste ich besser Bescheid als der Richter. Der hat sich nämlich
nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert. Jedenfalls bin ich recht gut informiert.«
»Was ist mit der
Wiederherstellung von Bildern?«
»Hab ich schon mal gehört.«
»Zum Beispiel von gelöschten
Fotos, Videos und digitalen Aufnahmen.«
»Soll ich Ihnen einen Eistee
machen?“
»Vielleicht später.«
»Ich glaube, Ashley wollte etwas
von Jimmy Dengate mitbringen. Haben Sie schon mal ein Brathähnchen von dort
gegessen? Er müsste jeden Moment zurück sein. Möchten Sie vielleicht mit uns
essen?«
»Was ich möchte, ist, dass Sie
jetzt endlich aufhören, vom Thema abzulenken. Dank der Wiederherstellung von
Bildern ist es nämlich nahezu unmöglich, eine digitale Aufnahme auf einer CD
oder einem USB-Stick endgültig zu beseitigen. Man kann löschen, so lange man
lustig ist. Wir schaffen es trotzdem, sie zu rekonstruieren.« Das stimmt zwar
nicht ganz, aber Marino hat keine Skrupel, zu lügen.
Madelisa macht ein Gesicht wie
eine Maus in der Falle.
»Sie wissen doch sicher, was ich
meine«, fährt Marino fort. Er hat sie zwar jetzt so weit, aber auch ein
schlechtes Gewissen, weil er sie so bedrängt. Außerdem ist er nicht sicher, was
er eigentlich sucht.
Als Scarpetta ihn vor einer
Weile angerufen und ihm mitgeteilt hat, Officer Turkington fände Mr. Dooleys
angeblich gelöschte Aufnahmen verdächtig - aus welchem Grund hat er wohl
während der Vernehmung ständig darauf herumgehackt? -, hat er versprochen, der
Sache auf den Grund zu gehen. Im Moment würde Marino ihr jeden Wunsch von den
Augen ablesen, nur damit sie ihn nicht verstößt. Er hat sich noch immer nicht
von dem Schrecken erholt, dass sie sich überhaupt bei ihm gemeldet hat.
»Was wollen Sie eigentlich von
mir?«, fragt Madelisa mit Tränen in den Augen. »Ich habe dem Polizisten doch
schon alles erzählt.«
Immer wieder blickt sie an
Marino vorbei in den hinteren Teil des kleinen gelben Hauses. Gelbe Tapete,
gelber Teppich. So viel Gelb ist Marino noch nie untergekommen. Es sieht aus,
als hätte ein Innenarchitekt alles angepinkelt, was die Dooleys besitzen.
»Ich habe die Wiederherstellung
von Fotos erwähnt, weil Ihr Mann, soweit ich informiert bin, einen Teil des am
Strand aufgenommenen Films gelöscht hat«, sagt Marino, ohne sich von ihren
Tränen rühren zu lassen.
»Nur die Stelle, wo ich ohne
Erlaubnis vor dem Haus stehe. Das ist alles. Schließlich habe ich es nicht
geschafft, mir eine Erlaubnis zu besorgen. Wie sollte ich auch. Jedenfalls habe
ich es versucht. Ich bin ja gut erzogen.«
»Sie und Ihre Erziehung
interessieren mich einen feuchten Dreck. Ich will nur wissen, warum Sie mir und
der Polizei etwas vorlügen.« Marino beugt sich vor. »Ich merke doch, dass Sie
nicht ehrlich mit mir sind. Und woran? Weil es wissenschaftliche Erkenntnisse
gibt.«
Marino fischt im Trüben, denn es
ist beileibe kein Kinderspiel, einmal gelöschte Aufnahmen auf einem
Digitalrecorder wiederherzustellen. Wenn es überhaupt klappt, ist es zumindest
eine ziemlich mühselige und langwierige Angelegenheit.
»Bitte nicht!«, fleht sie. »Es
tut mir ja wirklich leid, aber bitte nehmen Sie ihn mir nicht weg. Ich liebe
ihn doch so sehr.«
Marino hat keine Ahnung, von wem
sie redet. Von ihrem Mann vielleicht? Wen könnte sie sonst meinen?
»Was ist, wenn ich ihn Ihnen
nicht wegnehme?«, entgegnet er deshalb. »Wie soll ich das erklären, wenn man
mich danach fragt?«
»Tun Sie einfach so, als hätten
Sie nie von ihm gehört.« Sie schluchzt noch heftiger. »Es ist doch nicht weiter
wichtig. Er hat nichts getan. Oh, der arme Kleine. Wer weiß, was er
durchgemacht hat? Er hat gezittert, war voller Blut und hatte solche Angst,
dass er weggelaufen ist. Sie wissen genau, was passiert, wenn Sie ihn mitnehmen.
Man wird ihn einschläfern. Bitte, bitte, bitte, ich möchte ihn so gern
behalten!«
»Warum war er denn voller
Blut?«, fragt Marino.
Im Badezimmer lässt Scarpetta
den Schein der Taschenlampe rasch über den Fußboden aus Onyx gleiten, der die
Farbe von Tigerauge hat.
»Die Abdrücke von nackten
Füßen«, verkündet sie und bleibt an der Tür stehen. »Recht klein.
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