Totenbuch
die Läden in der Via de Condotti ansehen, und versprach, sich auf
der Piazza Navona am Brunnen mit ihnen zu treffen, wo sie dann warteten und
warteten. Wie sie Capitano Poma berichteten, hatten sie die dort angebotenen
knusprigen Waffeln aus Eiern, Mehl und Zucker gekostet und sich kichernd von
jungen Italienern mit Wasserpistolen beschießen lassen, aber schließlich doch
keine gekauft. Den Fake-Tattoos konnten sie jedoch nicht widerstehen. Und
anschließend hatten sie eine Combo aus
Straßenmusikanten animiert, ihnen auf Panflöten amerikanische Melodien
vorzuspielen. Wie sie einräumten, hatten sie beim Mittagessen ein wenig zu tief
ins Glas geschaut und waren in ziemlich ausgelassener Stimmung.
Drew beschrieben sie als
»ein bisschen betrunken«, und sie meinten, sie sei sehr hübsch gewesen, ohne
es zu wissen. Sie habe gedacht, dass die Leute sie nur anstarrten, weil sie sie
wiedererkannten, obwohl es häufig eher an ihrem Äußeren lag.
»Sie war nur Tennisfans ein Begriff«, meinte eine
ihrer Freundinnen zu Capitano Poma. »Sie ahnte einfach nicht, wie schön sie
war.«
Während des Hauptgangs redet Capitano Poma wie ein
Wasserfall. Benton trinkt mehr, als er isst, und Scarpetta weiß genau, was in
ihm vorgeht. Er hält es für ihre Pflicht, Pomas Annäherungsversuchen Einhalt
zu gebieten und aus seiner Reichweite zu rutschen - auch wenn sie dazu vom
Tisch aufstehen oder sogar die Trattoria verlassen müsste. In Bentons Augen ist
der Capitano ein unerträglicher Angeber. Er findet es empörend, dass ein medico legale Zeugen
befragt, als wäre er der leitende Kriminalbeamte. Außerdem erwähnt Poma niemals
die Namen anderer an dem Fall beteiligter Kollegen. Offenbar hat Benton
vergessen, dass der Capitano ja der »Sherlock Holmes von Rom« ist.
Wahrscheinlicher jedoch ist, dass ihn einfach nur die Eifersucht plagt.
Scarpetta macht sich Aufzeichnungen, während Poma in
allen Einzelheiten die ausführliche Vernehmung des golden geschminkten
Pantomimen schildert, der übrigens ein wasserdichtes Alibi hat. Als Drews
Freundinnen sie am späten Nachmittag suchten, stand er noch an derselben Stelle
am Fuße der Spanischen Treppe und gab seine Vorstellung. Der Mann will sich
zwar noch dunkel an das Mädchen erinnern, kenne es aber nicht namentlich. Sie
sei betrunken gewesen und irgendwann weitergegangen. Eigentlich habe er kaum
auf sie geachtet. Schließlich sei er Pantomime und die ganze Zeit über keinen
Moment aus der Rolle gefallen. Im bürgerlichen Leben arbeitet er als
Nachtportier im Hassler, wo Benton und Scarpetta wohnen. Das Hassler befindet
sich oben an der Spanischen Treppe und ist eines der besten Hotels in Rom.
Benton hat darauf bestanden, die Penthouse-Suite zu nehmen, und zwar aus
Gründen, die er Scarpetta noch erklären muss.
Scarpetta hat ihren Fisch kaum angerührt.
Stattdessen betrachtet sie weiter die Fotos, als sehe sie sie zum ersten Mal.
An Bentons und Pomas Debatte zu dem Thema, warum einige Mörder ihre Opfer auf
groteske Weise zur Schau stellen, beteiligt sie sich nicht. Sie fügt auch
nichts hinzu, als Benton von der erregenden Wirkung von Zeitungsschlagzeilen
auf Sexualstraftäter spricht. Für manche von ihnen steigert es das Vergnügen,
sich in der Nähe des Tatorts oder zwischen den Gaffern herumzudrücken und das
Drama um den Leichenfund und das wohlige Gruseln der Menge zu genießen.
Scarpetta mustert Drews nackten, verstümmelten Körper, der auf der Seite liegt.
Die Beine geschlossen, Knie und Ellenbogen angewinkelt, die Hände unterm Kinn.
Fast als schliefe sie.
»Ich bin nicht sicher, ob er sein Opfer verachtet«,
sagt sie. Benton und Poma verstummen.
»Wenn man genau hinschaut« - sie schiebt ein Foto zu
Benton hinüber -, »und zwar, ohne automatisch vorauszusetzen, dass es sich um
einen Akt der sexuellen Demütigung handelt, könnte man sich fragen, ob da nicht
etwas anderes im Spiel ist. Nichts Religiöses - sie betet ganz sicher nicht
zur heiligen Agnes. Aber seht euch die Körperhaltung an.« Scarpetta beschreibt
die Dinge in der Reihenfolge, wie sie ihr in den Sinn kommen. »Es wirkt fast
zärtlich.«
»Zärtlich? Das soll wohl ein Scherz sein«, wundert
sich Capitano Poma.
»Oder wie im Schlaf«, fährt Scarpetta fort.
»Jedenfalls macht es auf mich nicht den Eindruck einer sexuell demütigenden
Haltung. Typischerweise liegt das Opfer in diesen Fällen nämlich auf dem
Rücken, Arme und Beine gespreizt, und so weiter und so fort. Je länger ich das
Bild
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