Totenbuch
betrachte, desto sicherer bin ich mir.«
»Kann sein.« Benton greift nach dem Foto.
»Aber sie ist nackt. Ungeschützt den Blicken von
Schaulustigen ausgeliefert«, wendet Poma ein.
»Schauen Sie sich die Körperhaltung an. Natürlich
könnte ich mich auch irren. Ich versuche nur, auch für andere Deutungsmöglichkeiten
offen zu sein, meine Vorurteile beiseitezuschieben und meinen Zorn zu
vergessen, der mich dem Täter Hass unterstellen lässt. Es ist nur so ein
Gefühl. Möglicherweise wollte er ja, dass sie gefunden wird, hatte allerdings
nicht die Absicht, sie sexuell zu erniedrigen«, sagt sie.
»Sie erkennen darin wirklich weder Verachtung noch
Wut?« Capitano Poma versteht offenbar die Welt nicht mehr.
»Ich glaube, die Tat hat in ihm ein Machtgefühl
ausgelöst«, erwidert sie. »Er hat es genossen, dass das Opfer ihm ausgeliefert
war. Doch seine weiteren Motive können wir nur vermuten. Eine sexuelle
Komponente will ich auf gar keinen Fall ausschließen. Es soll auch nicht
heißen, dass keine Wut im Spiel ist. Ich denke nur, dass das nicht seine
wichtigsten Beweggründe waren.«
»In Charleston ist man sicher froh, Sie an Bord zu
haben«, meint er.
»Ganz im Gegenteil«, antwortet sie. »Zumindest, was
den dortigen Leichenbeschauer betrifft.«
Die betrunkenen Amerikaner werden immer lauter.
Benton scheint von ihrem Gespräch abgelenkt.
»Ich an der Stelle des Leichenbeschauers würde mich
glücklich schätzen, über eine Expertin wie Sie verfügen zu können. Oder macht
er etwa keinen Gebrauch von Ihren Talenten?«, fragt Capitano Poma und streift
Scarpetta wieder, als er nach einem Foto greift, das er eigentlich längst
kennt.
»Der Leichenbeschauer von Charleston schickt seine
Fälle lieber an die medizinische Fakultät der University of South Carolina.
Offenbar ist ihm meine private pathologische Praxis nicht ganz geheuer. Daher
arbeite ich nur für Leichenbeschauer in anderen Bezirken, die keinen Zugang zu
einem gerichtsmedizinischen Institut oder Laboren haben«, erklärt sie mit einem
Auge auf Benton.
Er signalisiert ihr, zuzuhören, was die betrunkenen
Amerikaner sagen.
»... ich finde dieses ständige >Kein
Kommentar< unseriös«, verkündet einer von ihnen gerade in selbstgerechtem
Ton.
»Man kann es ihr nicht verdenken, dass sie es nicht
an die große Glocke hängen will. Bei Oprah Winfrey oder bei Anna Nicole Smith
sind die Schaulustigen doch auch sofort in Scharen erschienen.«
»Einfach fies! Stell dir mal vor, du lägst im
Krankenhaus ...«
»Oder im Leichenschauhaus wie in Anna Nicole Smiths
Fall. Oder sogar schon unter der Erde ...«
»... und Horden von fremden Menschen stehen auf der
Straße und kreischen deinen Namen.«
»Wer die Hitze nicht aushält, muss sich von der
Küche fernhalten. Das ist eben der Preis, wenn man reich und berühmt ist.«
»Worum geht es?«, will Scarpetta von Benton wissen.
»Anscheinend hatte unsere alte Freundin Dr. Seif
heute einen Notfall und wird eine Weile nicht auf Sendung sein«, erwidert er.
Capitano Poma dreht sich um und betrachtet die
feuchtfröhliche Runde am Nebentisch. »Kennen Sie sie persönlich?«, fragt er.
»Wir ... Kay hatte eine kleine Auseinandersetzung
mit ihr«, erklärt Benton.
»Ich glaube, ich habe etwas dergleichen gelesen, als
ich mich nach Ihnen erkundigt habe. Ein Skandal um einen ausgesprochen brutalen
Mordfall in Florida, an dem Sie alle drei beteiligt waren.«
»Schön, zu wissen, dass Sie Nachforschungen über uns
angestellt haben«, entgegnet Benton. »Wie überaus gewissenhaft von Ihnen.«
»Ich wollte mich nur im Voraus ein wenig mit Ihnen
vertraut machen.« Poma blickt Scarpetta in die Augen. »Eine sehr schöne Frau,
die ich kenne, schaut sich regelmäßig Dr. Selfs Sendung an. Sie hat mir
erzählt, sie habe Drew letzten Herbst in der Show gesehen. Es hatte etwas mit
ihrem Sieg in dem wichtigen Turnier in New York zu tun. Wie ich bereits erzählt
habe, interessiere ich mich nicht für Tennis.«
»Die U.S. Open«, sagt Scarpetta.
»Ich wusste gar nicht, dass Drew in Dr. Selfs
Sendung aufgetreten ist«, sagt Benton mit einem ungläubigen Stirnrunzeln.
»Ist sie aber. Ich habe das nachgeprüft. Wirklich
sehr interessant. Und jetzt hat Dr. Seif also plötzlich einen familiären
Notfall. Ich habe versucht, sie zu erreichen, um ihr ein paar Fragen zu stellen,
aber sie hat sich noch nicht bei mir gemeldet. Vielleicht könnten Sie sich ja
für mich verwenden«, fügt er, an Scarpetta gewandt, hinzu.
»Ich
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