Totenbuch
ein
einziges Mal mit einem anderen zusammen, und zwar damals, als ich dachte ...«
»... ich wäre tot«, beendet er den Satz. »Ist ja
toll. Man teilt dir also mit, ich sei tot. Und eine Minute später vögelst du
mit einem Kerl, der jung genug ist, um dein Sohn zu sein!«
»Hör auf damit.« Allmählich reicht es ihr. »Lass
das.«
Er ist still. Auch nach einer Flasche Wein ist
Benton klug genug, nicht darauf herumzuhacken, dass er keine andere Wahl hatte,
als seinen Tod vorzutäuschen und in einem Zeugenschutzprogramm unterzutauchen.
Seinetwegen hat Scarpetta eine Menge ertragen müssen. Also ist er der Letzte,
der das Recht hat, ihr Vorwürfe zu machen.
»Tut mir leid«, sagt er.
»Was ist wirklich los?«, fragt sie. »Herrje, diese
Stufen.«
»Offenbar können wir es nicht ändern. Genauso wie
das, was du über livor mortis und rigor
mortis gesagt hast. Festgesetzt. Also sehen
wir der Wirklichkeit ins Auge.«
»Da gibt es nichts, dem man ins Auge sehen müsste.
Bei livor mortis und rigor
mortis geht es um Menschen, die tot
sind. Wir hingegen leben noch. Das hast du doch gerade selbst gesagt.«
Beide sind außer Atem. Scarpettas Herz klopft.
»Tut mir wirklich leid.« Damit meint er die
Vergangenheit und seinen angeblichen Tod, mit dem er ihr Leben aus der Bahn
geworfen hat.
»Warum ärgerst du dich so über diesen aufdringlichen
Kerl?«, fragt sie.
Benton ist es gewohnt, dass andere Männer Interesse
an ihr zeigen. Bis jetzt hat er sich noch nie darüber aufgeregt, sondern es
eher amüsant gefunden und Vertrauen in ihre Beziehung gehabt. Außerdem weiß er
um seine eigene Anziehungskraft und kennt das Problem sehr wohl, mit dem
Scarpetta sich auseinandersetzen muss: nämlich, dass Frauen ihn anstarren, ihn
wie zufällig streifen und ihn schamlos begehren.
»Du hast in Charleston ein neues Leben angefangen«,
erzählt er weiter. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du so bald wieder die
Zelte abbrechen willst. Warum bist du nur so weit fortgegangen?«
»Das fragst ausgerechnet du?« Die Treppe scheint
endlos zu sein.
»Du hast genau gewusst, dass ich beruflich an Boston
gebunden bin und nicht nach Belieben umziehen kann. Was wird jetzt aus uns,
verdammt?«
»Du bist eifersüchtig. Du benutzt Kraftausdrücke,
und das tust du sonst nie. Mein Gott, wie ich Treppen hasse!« Sie ringt nach
Luft. »Du hast keinen Grund, dich plötzlich bedroht zu fühlen. Das passt so gar
nicht zu dir. Was ist los?«
»Ich habe zu viel erwartet.«
»Was hast du denn erwartet, Benton?«
»Ach, egal.«
»Nein, ist es nicht.«
Weiter steigen sie die endlose Treppe hinauf und
schweigen, weil ihnen ihre Beziehung zu wichtig ist, um sie keuchend zu besprechen.
Scarpetta weiß, dass Bentons Wut Ausdruck seiner Angst ist. Rom ist nicht sein
Revier, und er fühlt sich unterlegen. Er fürchtet um seinen Einfluss in ihrer
Beziehung, weil er - mit Scarpettas Segen - nach Massachusetts gegangen ist.
Die Gelegenheit, als forensischer Psychologe im der Universität Harvard
angeschlossenen McLean Hospital zu arbeiten, war einfach zu verlockend.
»Was haben wir uns nur dabei gedacht?«, sagt sie.
Sie haben das obere Ende der Treppe erreicht, und sie greift nach seiner Hand.
»Wahrscheinlich waren wir wieder einmal zu idealistisch. Halt meine Hand, das
gibt mir Kraft. Siebzehn Jahre lang haben wir es nicht geschafft, in derselben
Stadt, geschweige denn im selben Haus zu wohnen.«
»Und du glaubst, daran lässt sich nichts ändern?« Er
verschränkt die Finger mit ihren und holt tief Luft.
»Wie denn?«
»Wahrscheinlich habe ich insgeheim dem Wunschtraum
nachgehangen, du könntest irgendwann umziehen. Vielleicht hättest du ja die
Möglichkeit, in Harvard, am MIT oder in Tufts zu unterrichten. An der
medizinischen Fakultät. Du könntest auch stundenweise als Beraterin im McLean
arbeiten. Oder in Boston am Gerichtsmedizinischen Institut. Möglicherweise
könntest du dort Chefpathologin werden.«
»Ein solches Leben will ich nie wieder führen«,
erwidert Scarpetta, als sie in die Hotelhalle treten. Sie ist im Stil der Belle
Epoque gehalten und stammt aus einer schöneren Zeit. Allerdings würdigen sie
den Marmor, das antike Muranoglas, die Seidenvorhänge und die Statuen keines
Blickes und achten auch nicht auf Romeo - so heißt er wirklich -, der tagsüber
golden geschminkter Pantomime und an den meisten Abenden hier Nachtportier ist.
Er ist ein attraktiver, ein wenig mürrisch wirkender junger Italiener, der die
Verhöre wegen
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