Totenbuch
Personen hier. Die meisten sind Lucy aus ihrem früheren Labor in
Florida gefolgt. Irgendwann wird ihre Nichte dem besten privaten
kriminaltechnischen Labor im ganzen Land vorstehen, und allmählich ahnt
Scarpetta, warum sie das eher traurig als froh stimmt. Obwohl Lucy über mangelnden
beruflichen Erfolg nicht klagen kann, ist es um ihr Privatleben nicht sehr gut
bestellt. Ebenso wie um Scarpettas. Offenbar sind sie beide nicht sehr begabt
darin, zwischenmenschliche Beziehungen zu knüpfen und zu pflegen, eine
Gemeinsamkeit, vor der Scarpetta bis jetzt die Augen verschlossen hat.
So behutsam Benton sich auch
ausgedrückt haben mag, hat ihr das Gespräch mit ihm doch ihre Schwächen
deutlich gemacht. Bedauerlicherweise hat er recht. Seit fünfzig Jahren führt
sie ein Leben auf der Überholspur mit dem Resultat, dass sie eine überdurchschnittliche
Toleranz für Schmerzen und Stress entwickelt hat, eine Eigenschaft, die nicht
unschuldig an ihrem momentanen Dilemma ist. Ihr fällt es nun einmal leicht,
sich hinter ihrem Beruf zu verschanzen und ihre Tage mit langen Arbeitsstunden,
unterbrochen von einsamen Phasen, zu füllen. Wenn sie ganz ehrlich mit sich
ist, hat Bentons Ring in ihr kein Gefühl von Glück oder Geborgenheit ausgelöst.
Für sie symbolisiert dieser Ring eher das, wovor sie sich am meisten fürchtet -
die Angst, er könnte sein Geschenk zurücknehmen oder zu dem Schluss kommen,
dass er es doch nicht so gemeint hat.
Kein Wunder, dass Marino
schließlich durchgedreht ist. Zugegeben, er war betrunken, stand unter dem
Einfluss eines Hormonpräparats und hat sich außerdem vermutlich von Shandy und
Dr. Seif aufstacheln lassen. Doch wenn Scarpetta in all den Jahren nur einmal
richtig hingeschaut hätte, hätte sie ihn vielleicht vor sich selbst schützen
und diesen Übergriff verhindern können. Auch sie hat sich schuldig gemacht und
ihm wehgetan, weil sie ihm keine wirkliche und vertrauenswürdige Freundin
gewesen ist. Sie hat ihn nicht mit klaren Worten zurückgewiesen und auf Zeit
gespielt, bis er schließlich zu weit gegangen ist. Sie hätte ihm schon vor zwanzig
Jahren die Wahrheit sagen müssen.
Ich liebe dich nicht, und ich werde dich auch
niemals lieben, Marino. Du bist nicht mein Typ. Das bedeutet nicht, dass ich
etwas Besseres bin als du, Marino. Es heißt nur, dass ich deine Gefühle nicht
erwidern kann.
Sie überlegt, wie sie es hätte
ausdrücken sollen, und verlangt von sich eine Antwort auf die Frage, warum sie
geschwiegen hat. Sie hätte riskiert, dass er sie verlässt. Dann hätte sie auf
seine ständige Anwesenheit verzichten müssen, so anstrengend diese auch manchmal
sein mag. Und nun hat sie ihm vermutlich genau das angetan, was sie unter allen
Umständen zu vermeiden versucht hat. Sie hat ihn gedemütigt und weggestoßen und
muss den Verlust ihrer Freundschaft nun ebenso verkraften wie er.
Die Aufzugtüren öffnen sich im
ersten Stock. Scarpetta folgt einem kahlen Flur zu einigen Labors, die hinter
Metalltüren und einer Luftschleuse verborgen sind. In einem Vorraum schlüpft
sie in einen weißen Einwegkittel, Haarnetz, Kappe, Schuhhüllen, Handschuhe und
Gesichtsmaske. Dann lässt sie sich in einer weiteren Schleuse von
ultraviolettem Licht entkeimen und betritt anschließend ein
vollautomatisiertes Labor, das der Extraktion und Vervielfältigung von DNA
dient und wo Lucy - ebenfalls ganz in Weiß - sie aus ihr rätselhaften Gründen
treffen wollte. Lucy sitzt neben einer Abzugshaube und spricht mit einem in
seiner weißen Vermummung unkenntlichen Mitarbeiter.
»Tante Kay?«, sagt Lucy. »Sicher
erinnerst du dich noch an Aaron. Er leitet das Labor vertretungsweise.«
Als das Gesicht hinter der
Plastikmaske lächelt, erkennt Scarpetta es wieder. Die drei nehmen Platz.
»Ich weiß, dass Sie Experte für
Kriminaltechnik sind«, sagt Scarpetta. »Doch dass Sie einen neuen Posten haben,
war mir neu.« Sie erkundigt sich, was aus dem vorherigen Laborleiter geworden
ist.
»Er hat gekündigt, und zwar
wegen der Lügen, die Dr. Seif über mich ins Internet gestellt hat.« Lucys Augen
funkeln zornig.
»Wie kann man einfach so
kündigen?«, wundert sich Scarpetta.
»Er hatte Angst, seinen Job zu
verlieren, weil ich angeblich bald sterbe. Und so hat er sich nach etwas Neuem
umgeschaut. Aber er war sowieso ein Idiot. Ich bin froh, ihn los zu sein. Also
hat mir die blöde Ziege sogar einen Gefallen getan. Allerdings sind wir nicht
seinetwegen hier. Wir haben nämlich
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