Totenbuch
gut,
Kay.«
Scarpetta schließt die Tür
hinter sich und verlässt das Hotel. Über einen Gartenweg und vorbei an einem
plätschernden Brunnen mit Pferdeskulpturen geht sie zum Hotelparkhaus. Die
Sonne ist noch nicht aufgegangen. Eigentlich sollte sie jetzt die Polizei
anrufen, doch sie kann nur daran denken, wie viel Leid diese Frau inzwischen
verursacht hat. Im menschenleeren Parkhaus - nichts als Autos und Beton - wird
sie von Panik ergriffen, und eine von Dr. Selfs Bemerkungen fällt ihr wieder
ein.
Ein Wunder, dass er sich nicht umgebracht hat.
War das eine Prophezeiung, eine Schlussfolgerung - oder kennt
sie vielleicht noch ein schreckliches Geheimnis? Der Satz lässt Scarpetta nicht
mehr los. Lucy oder Benton um Hilfe zu bitten kommt nicht in Frage. Die beiden
haben keinen Funken Mitleid mit Marino. Vielleicht hoffen sie sogar, dass er
sich eine Kugel in den Kopf gejagt oder sich mit dem Auto von einer Brücke
gestürzt hat. Scarpetta stellt sich vor, wie Marino tot in seinem Pick-up am
Grunde des Cooper River liegt.
Sie beschließt, Rose anzurufen,
doch ihr Mobiltelefon bekommt kein Signal. Als sie zu ihrem Wagen geht, bemerkt
sie nur beiläufig den weißen Cadillac, der daneben parkt. Sie sieht den ovalen
Aufkleber auf der hinteren Stoßstange: HH für Hilton Head. Was dann geschieht,
erahnt sie mehr, als dass sie es mit dem Verstand wahrnimmt. Sie dreht sich im
selben Moment um, als Capitano Poma hinter einer Betonsäule hervorgestürmt
kommt. Dann spürt sie, dass sich die Luft hinter ihr bewegt. Poma macht einen
Satz, und sie wirbelt herum, als sich etwas um ihren Arm schließt. Für einen
Sekundenbruchteil hat sie ein Gesicht auf Augenhöhe: ein junger Mann mit
militärischem Haarschnitt, einem roten geschwollenen Ohr und wildem Blick. Im
nächsten Moment stößt er sie gegen ihren Wagen. Ein Messer fällt klappernd zu Boden.
Der Capitano ruft etwas und schlägt auf den Mann ein.
23
Bull hält seine Mütze in beiden
Händen.
Er hat, ein wenig
vornübergebeugt, auf dem Beifahrersitz Platz genommen. Wenn er sich ganz
aufrichten würde, was er am liebsten täte, würde sein Kopf das Wagendach
berühren. Doch Bulls Stolz ist ungebrochen, auch wenn er gerade noch wegen
eines Verbrechens, das er nicht begangen hat, im Gefängnis war und nur auf
Kaution entlassen worden ist.
»Vielen Dank fürs Abholen, Dr.
Kay«, sagt er, als sie vor ihrem Haus hält. »Tut mir leid, dass Sie meinetwegen
Unannehmlichkeiten hatten.«
»Sie brauchen das nicht ständig
zu wiederholen, Bull. Im Moment bin ich stinksauer.«
»Ich weiß, und ich möchte mich
wirklich bei Ihnen entschuldigen, denn Sie können schließlich nichts dafür.«
Er öffnet die Tür und wuchtet sich aus dem Auto. »Ich habe versucht, mir die
Füße richtig abzutreten, aber offenbar habe ich trotzdem Ihre Fußmatte
schmutzig gemacht. Am besten schüttle ich sie gleich aus.«
»Jetzt lassen Sie endlich die Entschuldigungen,
Bull. Ich höre mir das jetzt schon an, seit wir vom Gefängnis losgefahren sind.
Ich könnte vor Wut platzen. Und wenn so etwas noch einmal passiert, ohne dass
Sie mich sofort anrufen, kriegen sie es mit mir zu tun.«
»Besser nicht!« Er schüttelt die
Fußmatte aus. Allmählich gewinnt Scarpetta den Eindruck, dass er genauso
starrsinnig ist wie sie.
Es war ein langer Tag, geprägt
von schmerzlichen Erinnerungen, beinahe verhängnisvollen Fehlern und schlechten
Gerüchen. Dann rief Rose an. Als Hollings an den Autopsietisch trat und
meldete, er habe Nachrichten, die sie sich unbedingt anhören müsse, steckte
Scarpetta gerade bis zu den Ellbogen in Lydia Websters verwesender Leiche. Es
bleibt ein wenig unklar, wie Rose es herausgefunden hat. Aber eine ihrer
Nachbarinnen kennt die Nachbarin einer Nachbarin von Scarpetta, eine Frau, der
sie nie begegnet ist. Diese Nachbarin wiederum hat das Gerücht aufgeschnappt,
eine andere Nachbarin - Mrs. Grimball, die Scarpetta sehr wohl ein Begriff ist
- habe Bull wegen Hausfriedensbruchs und versuchten Einbruchs verhaften lassen.
Bull hatte sich hinter dem
Klebsamengewächs links von Scarpettas vorderer Veranda versteckt, wo Mrs.
Grimball ihn aus einem Fenster in der oberen Etage zufällig beobachtete. Es war
Nacht. Scarpetta kann ihren Nachbarn nicht verdenken, dass sie derartige
Beobachtungen als beunruhigend empfinden. Nur Mrs. Grimball nimmt sie es übel,
denn der hat es nicht gereicht, einfach nur die Polizei anzurufen. Nein, sie
musste ihre Geschichte auch noch
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