Totenbuch
Küche sitze, kann ich die Servierwagen
klappern hören«, antwortet Ruth.
»Dann ist sie anscheinend schon
wach. Ausgezeichnet, denn ich möchte sie nicht wecken.« Die Wut beginnt hinter
Scarpettas Augen und arbeitet sich langsam nach unten vor.
»Kaffee jeden Morgen um fünf.
Sie gibt kaum Trinkgeld. Wir sind nicht unbedingt verrückt nach ihr«, stellt
Ruth fest.
Dr. Seif bewohnt eine Ecksuite
im siebten Stock des Hotels. Scarpetta schiebt eine Magnetkarte in den Schlitz
im Aufzug, und schon wenige Minuten später steht sie vor ihrer Tür. Sie spürt,
dass Dr. Seif sie durch den Spion beobachtet.
Die Tür öffnet sich. »Ich sehe,
da war jemand indiskret. Hallo, Kay«, sagt Dr. Seif.
Sie trägt einen auffälligen
Morgenmantel aus roter Seide, locker an der Taille gegürtet, und dazu schwarze
Seidenpantoffeln.
»Was für eine angenehme
Überraschung. Wer mag es Ihnen wohl erzählt haben? Bitte.« Sie macht Platz,
damit Scarpetta eintreten kann. »Wie es der Zufall will, hat man mir zwei
Tassen und eine zusätzliche Kanne Kaffee gebracht. Lassen Sie mich raten, wie
Sie mich hier gefunden haben, und mit hier meine ich nicht nur dieses wunderschöne Zimmer.« Dr. Seif
setzt sich aufs Sofa und schlägt die Beine übereinander. »Shandy. Seit ich ihre
Forderungen erfüllt habe, wittert sie anscheinend Morgenluft. Sie ist und
bleibt eben ein bisschen beschränkt.«
»Ich habe Shandy nicht
getroffen«, antwortet Scarpetta. Sie hat sich in einem Ohrensessel an einem
Fenster mit Blick auf die Lichter der Altstadt niedergelassen.
»Vielleicht nicht persönlich«,
entgegnet Dr. Seif. »Doch gesehen haben Sie sie sicher schon, und zwar bei
ihrer Exklusivtour durch Ihren Autopsiesaal. Ich denke oft an jene unschönen
Tage vor Gericht, Kay, und frage mich dabei, ob wohl alles anders gekommen
wäre, wenn die Welt damals schon Ihr wahres Gesicht gekannt und gewusst hätte,
dass Sie Schaulustige in Ihrer Leichenhalle herumführen und aus dem Tod ein
Spektakel machen. Mir fällt dabei insbesondere der kleine junge ein, den Sie
gehäutet und filetiert haben. Warum haben Sie ihm die Augen entfernt? Wie viele
Verstümmelungen mussten Sie ihm beibringen, bis Sie endlich auf die
Todesursache gekommen sind? Die Augen! Also wirklich, Kay!«
»Wer hat Ihnen davon erzählt?«
»Shandy hat sich damit
gebrüstet. Stellen Sie sich nur die Reaktion der Geschworenen in Florida vor,
wenn sie geahnt hätten, was für ein Mensch Sie sind.«
»Das Urteil hat Ihnen nicht
geschadet«, entgegnet Scarpetta. »Überhaupt sind Sie ziemlich ungeschoren
davongekommen und hatten so die Möglichkeit, weiter mit anderen Menschen Schindluder
zu treiben. Haben Sie schon gehört, dass Ihre Freundin Karen sich keine
vierundzwanzig Stunden nach ihrer Entlassung aus dem McLean Hospital das Leben
genommen hat?«
Dr. Selfs Miene hellt sich auf.
»Dann hat ihre traurige Geschichte zumindest einen krönenden Abschluss
gefunden.« Sie sieht Scarpetta an. »Lassen wir doch das Theater. Ich fände es
viel bedauerlicher, wenn Sie mir gesagt hätten, Karen wäre wieder zur Entziehungskur
in einer Klinik. Wie viele Menschen leben in stiller Verzweiflung vor sich hin?
Sie sollten Thoreau lesen. Aber das ist ja eher Bentons Gebiet. Er lebt in
Massachusetts, Sie sind hier. Wie soll das gehen, wenn Sie erst verheiratet
sind?« Ihr Blick fällt auf den Ring an Scarpettas linker Hand. »Wird es
überhaupt je dazu kommen? Sie beide halten ja nicht viel von Bindungen. Nun,
Benton vielleicht schon. Allerdings beschäftigt er sich dort oben im Norden mit
einer anderen Art von Bindungen. Sein kleines Experiment hat mir wirklich Spaß
gemacht. Ich kann es kaum erwarten, im Fernsehen darüber zu sprechen.«
»Der Prozess in Florida hat Sie
nichts weiter gekostet als Geld, ein Verlust, der vermutlich von Ihrer
Haftpflichtversicherung abgedeckt war. Gewiss zahlen Sie hohe Prämien, und
zwar zu Recht. Mich wundert eher, dass es überhaupt eine Versicherung gibt, die
Sie aufnimmt«, entgegnet Scarpetta.
»Ich muss packen. Zurück nach
New York und wieder auf Sendung. Habe ich Ihnen eigentlich schon von meiner
neuen Show erzählt? Thema ist, was im Kopf eines Verbrechers vorgeht. Keine
Sorge, mit Ihnen werde ich mich nicht befassen.«
»Alles deutet darauf hin, dass
Shandy ihren eigenen Sohn getötet hat«, sagt Scarpetta. »Wollen Sie deswegen
denn nichts unternehmen? Er war immerhin Ihr Enkel.«
»Ich habe so lange wie möglich
einen großen Bogen um Shandy gemacht«,
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