Totenbuch
ein
Kind.«
»Aber er ist kein Kind, Tante Kay. Früher oder
später musst du ihn rauswerfen.«
»Und wie soll ich dann hier klarkommen? Ich schaffe
es doch schon jetzt kaum. Mir fehlt das Personal, und nirgendwo ist auch nur
ein einziger qualifizierter Mitarbeiter in Sicht, den ich einstellen könnte.«
»Das ist erst der Anfang. Es wird noch schlimmer mit
ihm werden«, beharrt Lucy. »Er ist nicht mehr der Mensch, den du früher
gekannt hast.«
»Das glaube ich nicht. Ich könnte ihn niemals vor
die Tür setzen.«
»Da hast du recht«, stimmt ihr Lucy zu. »Das
könntest du nicht. Es wäre wie eine Scheidung. Er ist dein Ehemann. Immerhin
hast du inzwischen viel mehr Zeit mit ihm verbracht als mit Benton.«
»Marino ist ganz sicher nicht mein Ehemann. Bitte
spar dir deine Scherze.«
Lucy nimmt den Umschlag, der auf der Stufe liegt,
und reicht ihn Scarpetta. »Sechs Mails, alle von ihr. Zufällig traf die erste
am vergangenen Montag ein, also einen Tag nach deiner Rückkehr aus Rom. An dem
Tag, als wir alle deinen Ring bewundert und - detektivisch begabt, wie wir nun
einmal sind - gefolgert haben, dass er nicht aus dem Kaugummiautomaten ist.«
»Gibt es auch Mails von Marino an Dr. Seif?«
»Offenbar sollst du nicht sehen, was er geschrieben
hat. Und jetzt würde ich dir empfehlen, fest auf ein Stück Holz zu beißen.« Sie
deutet auf den Inhalt des Umschlags. »Wie es
ihm gehe? Sie vermisse ihn. Denke an ihn. Du seist eine Tyrannin. Schnee von
gestern. Sicher leide er schrecklich darunter, für dich arbeiten zu müssen. Was
könne sie tun, um ihm zu helfen?«
»Wird er es denn nie begreifen?« Es ist ein
Trauerspiel.
»Du hättest ihm die Verlobung verheimlichen sollen.
Wie konntest du nicht begreifen, was das bei ihm auslösen würde?«
Scarpetta beobachtet, dass die violetten
mexikanischen Petunien wieder ein Stück weiter die nördliche Gartenmauer
hinaufgekrochen sind. Sie stellt fest, dass das lavendelfarbene Wandelröschen
ein bisschen vertrocknet aussieht.
»Nun, willst du die verdammten Dinger nicht lesen?«
Lucy klopft auf den Umschlag.
»Diese Macht möchte ich den Briefen nicht
zugestehen«, erwidert Scarpetta. »Ich habe Wichtigeres zu tun. Deshalb habe
ich ja dieses dämliche Kostüm angezogen und fahre an einem gottverdammten
Sonntag in mein gottverdammtes Büro, obwohl ich lieber etwas im Garten tun oder
einen Spaziergang machen würde.«
»Ich habe Erkundigungen über den Kerl eingeholt, mit
dem du dich heute Nachmittag treffen willst. Er ist vor kurzem Opfer eines
Überfalls gewesen. Keine Verdächtigen. Außerdem wurde er wegen einer
Ordnungswidrigkeit, sprich Marihuanabesitz, angezeigt. Doch man hat das
Verfahren eingestellt. Ansonsten nicht mal ein Strafzettel. Dennoch finde ich,
dass du nicht allein mit ihm sein solltest.«
»Was ist mit dem getöteten kleinen Jungen in meinem
Autopsiesaal? Da du ihn noch nicht erwähnt hast, gehe ich davon aus, dass im
Computer nichts über ihn zu finden war.«
»Es ist, als hätte es ihn nie gegeben.«
»Nun, es gibt ihn aber. Und ihm wurden Dinge
angetan, wie ich sie so schrecklich nur selten gesehen habe. Vielleicht sollten
wir mal etwas ganz Unkonventionelles tun.«
»Und das wäre?«
»Statistische Genetik.«
»Ich verstehe nicht, warum noch immer niemand dieses
Verfahren einsetzt«, sagt Lucy. »Die technischen Voraussetzungen existieren,
und ich bin mit ihnen vertraut. Eigentlich ist es ganz simpel. Menschen, die
miteinander blutsverwandt sind, haben dieselben Allele. Der Rest ist nur eine
Frage der Wahrscheinlichkeitsrechnung.«
»Vater, Mutter und Geschwister weisen einen höheren
Grad von Übereinstimmung auf. Wenn wir diese Merkmale kennen, können wir in
diese Richtung weiterforschen. Ich finde, wir sollten es versuchen.«
»Was geschieht, wenn sich herausstellt, dass der
kleine Junge von einem Angehörigen getötet wurde? Dann hätten wir ein experimentelles
Verfahren, eben statistische Genetik, in einem Kriminalfall angewendet. Was
sagen die Gerichte dazu?«, fragt Lucy.
»Erst müssen wir wissen, wer er ist. Über die Gerichte
können wir uns auch noch später den Kopf zerbrechen.«
Belmont, Massachusetts.
Dr. Marilyn Self sitzt in ihrem Zimmer mit Aussicht am Fenster.
Sanft abschüssige Rasenflächen, Wälder, Obstbäume
und alte Backsteingebäude zeugen von einer stilvollen Epoche, in der die
Reichen und Berühmten einfach untertauchen konnten - für eine Weile, so lange
wie nötig und, in einigen hoffnungslosen
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