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Totenbuch

Totenbuch

Titel: Totenbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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nur ein.
Manchmal weiß ich selbst nicht, was wirklich stimmt.« Enttäuschung.
    »Unterdrückte Erinnerungen, meine Liebe«, sagte Dr.
Seif. »Zweifeln Sie nicht an Ihrem inneren Selbst. Das rate ich allen meinen
Klienten. Woran sollen Sie nicht zweifeln, Karen?«
    »An dem inneren Selbst.«
    »Richtig. Ihr inneres Selbst kennt die Wahrheit. Ihr
inneres Selbst weiß, was stimmt.«
    »Ein wahres Ereignis, das mit meinem Vater
zusammenhängt und an das ich mich nicht erinnere?«
    »Eine unerträgliche Wahrheit, an die Sie nicht zu
denken wagen und der Sie sich damals nicht stellen konnten. Sehen Sie, meine
Liebe, im Grunde genommen geht es eigentlich immer um Sex. Ich kann Ihnen
helfen.«
    »Bitte helfen Sie mir!«
    Geduldig führte Dr. Seif Karen in die Zeit zurück,
als sie sieben Jahre alt war, und begleitete sie mit einfühlsamen Worten an den
Schauplatz des Verbrechens gegen ihre Seele. Endlich - und zum ersten Mal in
ihrem sinnlosen, verpfuschten Leben - erinnerte sich Karen daran, wie ihr Vater
zu ihr ins Bett kroch und seinen nackten, erigierten Penis an ihrem Po rieb.
Sie spürte seinen alkoholgeschwängerten Atem im Gesicht und kurz darauf etwas
Warmes, Klebriges an ihrer Pyjamahose. Dann verhalf Dr. Seif der armen Karen zu
der traumatischen Erkenntnis, dass es sich bei dem Geschehenen nicht um ein
einmaliges Ereignis handelte, da sexueller Missbrauch sich in den meisten
Fällen wiederholt. Nach dem Zustand des Pyjamas und der Bettwäsche der kleinen
Karen zu urteilen, hat ihre Mutter sicher gewusst, was geschehen war, aber beschlossen
zu ignorieren, was ihr Mann ihrer Tochter antat.
    »Ich weiß noch, dass mein Vater mir heiße Schokolade
ans Bett brachte und ich sie verschüttet habe«, gestand Karen schließlich.
»Meine Pyjamahose war ganz warm und feucht. Vielleicht ist es ja das, woran ich
mich erinnere, und nicht ...«
    »Weil es weniger gefährlich war, an heiße Schokolade
zu denken. Und was geschah dann?« Keine Antwort. »Wessen Schuld war es, dass
die Schokolade verschüttet wurde?«
    »Meine«, erwiderte Karen unter Tränen.
    »Haben Sie deshalb seitdem Alkohol und Drogen
konsumiert? Liegt es vielleicht daran, dass Sie sich die Schuld an dem Vorgefallenen
geben?«
    »Das war viel später. Ich habe mit dem Trinken und
dem Marihuana erst mit vierzehn angefangen. Ach, ich weiß nicht! Ich will
nicht mehr in Trance fallen, Dr. Seif! Ich kann die Erinnerungen nicht
ertragen! Auch wenn es möglicherweise doch nicht stimmt, glaube ich jetzt, dass
es wahr ist!«
    »Genau so schildert es Pitres in Legons cliniques sur l'hysterie et l'hypnotisme aus dem Jahr 1891«, erklärte Dr. Seif, während idyllische
Wälder und Rasenflächen langsam aus dem Morgengrauen hervortraten - eine
Aussicht, die sie bald von ihrem eigenen Bett aus würde genießen können.
Während sie ausführlich die Begriffe Delirium und Hysterie erklärte, blickte
sie immer wieder hinauf zu der Lampe über Karens Bett.
    »In diesem Zimmer kann ich auf keinen Fall
bleiben!«, rief Karen schließlich. »Möchten Sie nicht mit mir tauschen?«,
flehte sie.
     
    Lucious Meddick lässt das Gummiband an seinem
rechten Handgelenk schnalzen, während er den schimmernden schwarzen Leichenwagen
in der Seitengasse hinter Dr. Scarpettas Haus parkt.
    Die Einfahrt ist für Pferde, nicht für große
Fahrzeuge gedacht. Eine Zumutung ist das! Lucious hat immer noch Herzklopfen
und ist nervös. Ein Glück, dass er mit dem Wagen weder die Bäume noch die hohe
Backsteinmauer gestreift hat, die die Seitengasse und die alten Häuser, die sie
säumen, von einer öffentlichen Grünanlage trennt. Wie kann man so etwas von
ihm verlangen? Er befürchtet, bei seinem nagelneuen Leichenwagen könnte sich
bereits die Spur verzogen haben, denn die Lenkung hat beim Holpern über
Pflastersteine und durch Haufen aus Erde und totem Laub zur Seite gezogen. Als
er aussteigt und den Motor laufen lässt, bemerkt er eine Frau, die oben am
Fenster steht und ihn beobachtet. Lucious lächelt ihr zwar zu, kann sich aber
des Gedankens nicht erwehren, dass die alte Schachtel sicher bald seine Dienste
in Anspruch nehmen muss.
    Er drückt auf den Knopf der Gegensprechanlage an dem
massiven Eisentor. »Meddick«, meldet er sich.
    Nach einer langen Pause, in der er seine Ankündigung
noch einmal wiederholt, ertönt eine kräftige Frauenstimme: »Wer ist da?«
    »Bestattungsinstitut Meddick. Ich habe eine
Lieferung.«
    »Eine Lieferung hierher!«
    »Ja, Ma'am.«
    »Bleiben Sie im Wagen.

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