Totenbuch
Fällen, für immer - und währenddessen
stets mit dem gebührenden Respekt behandelt wurden. Im McLean Hospital begegnet
man auf Schritt und Tritt bekannten Schauspielern, Musikern, Sportlern und Politikern,
die über den von dem berühmten Landschaftsarchitekten Frederick Law Olmsted
gestalteten offenen Campus schlendern. Olmstead haben wir übrigens auch
Attraktionen wie den New Yorker Central Park, den Park des Kapitols, das
Biltmore Estate und das Gelände der Weltausstellung 1893 in
Chicago zu verdanken.
Dr. Marilyn Seif gehört eigentlich nicht hierher,
doch sie hat auch nicht vor, lange zu bleiben. Wenn die Wahrheit erst an die Öffentlichkeit
kommt, wird man ihre Gründe bestimmt verstehen. Sie braucht einen sicheren
Rückzugsort und hat, wie schon immer in ihrem Leben, eine Mission, einen »Sinn
ihrer Existenz«, wie sie selbst es bezeichnet. Dass Benton Wesley hier
arbeitet, hatte sie ganz vergessen.
Schockierende Geheimexperimente: Frankenstein kehrt
zurück. Lassen Sie uns einmal sehen. (Sie
arbeitet gerade am Konzept für die erste Show, wenn sie nach der Pause wieder
auf Sendung geht.) Während
ich in Klausur war, um mein Leben zu schützen, wurde ich überraschend und gegen
meinen Willen zur Augenzeugin, nein, schlimmer, zum Versuchskaninchen
heimlicher Experimente und von Patientenmissbrauch. Und zwar im Namen der
Wissenschaft! Wie es Kurtz in Joseph Conrads Herz der Finsternis ausdrückt,
war es ein »unvorstellbares Grauen«! Man unterwarf mich der modernen Version
von Methoden, wie man sie in den Verliesen des finstersten Mittelalters
anwendete, als man in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkte Personen als
Untermenschen betrachtete und sie behandelte wie ... wie ... (Der richtige Vergleich wird ihr schon noch einfallen.)
Schmunzelnd erinnert sich Dr. Seif an Marinos
begeisterte Reaktion, als er sah, dass sie ihm tatsächlich geantwortet hat.
Wahrscheinlich glaubt er wirklich, dass sie (die berühmteste Psychiaterin der
Welt) sich gefreut hat, von ihm zu hören. Er denkt immer noch, dass sie sich
für ihn als Person interessiert. Doch weit gefehlt! Nicht einmal, als er damals
in Florida ihr Patient gewesen ist, hat sie nur einen Gedanken an sein
Schicksal verschwendet. Für sie war die Therapie eher ein Spiel und hatte, ja,
sie gibt es zu, auch einen gewissen Reiz, denn seine Bewunderung für sie war
fast genauso erbärmlich wie seine unerfüllte Sehnsucht nach Scarpetta.
Scarpetta kann einem inzwischen wirklich leidtun.
Kaum zu fassen, was ein paar geschickt arrangierte Telefonate ausrichten
können.
Dr. Selfs Gedanken überschlagen sich. Hier in ihrem
Zimmer im Pavillon, wo die Mahlzeiten aus einem Restaurant geliefert werden und
stets ein Pförtner bereitsteht, falls man ins Theater, zu einem Spiel der Red
Sox oder in den Schönheitssalon zu gehen wünscht, arbeitet ihr Verstand
unablässig. Den privilegierten Patienten im Pavillon liest man fast jeden
Wunsch von den Augen ab, und zu Dr. Selfs Bedingungen gehörten ein eigenes
E-Mail-Konto und das Zimmer, das bei ihrem Eintreffen vor neun Tagen leider
noch von einer Patientin namens Karen belegt war.
Natürlich hat sich das Problem mit der nicht
hinzunehmenden Zimmerverteilung bereits an Dr. Selfs erstem Tag mühelos und unbürokratisch
gelöst. Dr. Seif trat noch vor Morgengrauen an Karens Bett und weckte sie
sanft, indem sie ihr auf die Augen pustete.
»Oh!«, rief Karen erleichtert aus, als sie
feststellte, dass es Dr. Seif und nicht etwa ein Vergewaltiger war, der da vor
ihrem Bett stand. »Ich habe gerade etwas Merkwürdiges geträumt.«
»Hier. Ich habe Ihnen Kaffee gebracht. Sie haben
geschlafen wie eine Tote. Ob Sie gestern Abend vielleicht zu lange in die
Kristalllampe gestarrt haben?« Dr. Seif blickt zu der viktorianischen Lampe
aus Kristallglas an der dämmrigen Decke empor.
»Was!«, rief Karen erschrocken und stellte ihre
Kaffeetasse auf das antike Nachtkästchen.
»Mit Kristall muss man sehr vorsichtig sein.
Hinzuschauen kann eine hypnotische Wirkung haben und einen in Trance versetzen.
Was haben Sie denn geträumt?«
»Dr. Seif, es war so real! Jemand hat mir ins
Gesicht geatmet, und ich hatte solche Angst.«
»Haben Sie eine Vermutung, wer das gewesen sein
könnte? Vielleicht ein Familienmitglied oder ein Freund?«
»Als ich klein war, hat mein Vater seinen Bart an
meinem Gesicht gerieben. Dann habe ich seinen Atem gespürt. Komisch! Das ist
mir gerade erst eingefallen. Möglicherweise bilde ich es mir ja auch
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