Totenbuch
Anschuldigung, du hättest die
Geschworenen beeinflusst.«
»Aber darum geht es doch vor Gericht - man
beeinflusst die Geschworenen.«
»Bist du es, die da redet? Oder sitze ich neben
einer Fremden?«
»Wenn man gefesselt ist und gefoltert wird, die
Schreie mit anhören muss, während Menschen, die man liebt, im Nebenzimmer
gequält und getötet werden, und wenn man sich dann selbst das Leben nimmt, um
diesem Schicksal zu entrinnen? Dann ist das, verdammt nochmal, kein Selbstmord,
Lucy, sondern Mord.«
»Und wie sieht es juristisch aus?«
»Das ist mir eigentlich ganz egal.«
»Früher hat es dich einmal interessiert.«
»Eher nicht. Du hast ja keine Ahnung, was in mir all
die Jahre vorging, als ich meine Fälle bearbeitet habe und dabei oft feststellen
musste, dass ich die Einzige war, die auf der Seite des Opfers stand. Dr. Seif
hat den Fehler gemacht, sich hinter dem Arztgeheimnis zu verschanzen und
Informationen für sich zu behalten, mit deren Hilfe man großes Leid und
Todesfälle hätte verhindern können. Also ist sie noch ziemlich glimpflich
davongekommen. Warum reden wir überhaupt über diese Frau? Weshalb musst du mich
so aufregen?«
Lucy blickt ihr in die Augen. »Wie lautet das alte
Sprichwort? Rache genießt man am besten kalt. Sie hat wieder Kontakt zu Marino.«
»Oh, mein Gott! Als ob die vergangene Woche nicht
schon schlimm genug gewesen wäre. Ist er denn völlig übergeschnappt?«
»Glaubst du, er hat Luftsprünge gemacht, als du aus
Rom zurückkamst und deine frohe Nachricht überall herumposaunt hast? Wo lebst
du denn, im Weltraum?«
»Offenbar.«
»Wie kannst du nur so blind sein? Plötzlich treibt
er sich wieder jeden Abend in Kneipen herum, lässt sich volllaufen und legt
sich eine prollige Freundin zu. Diesmal hat er sich wirklich die allerletzte
Schlampe geangelt, oder wusstest du das etwa auch nicht? Shandy Snook - wie Snook's
Flamin' Chips.«
»Flamin' was?«
»Fettige, versalzene Kartoffelchips mit scharfem
Pepperoni-Aroma. Ihr Vater hat ein Vermögen damit gescheffelt. Vor etwa einem
Jahr ist sie hierher gezogen und hat Marino am letzten Montagabend im Kick 'N Horse kennengelernt.
Liebe auf den ersten Blick.«
»Das hat er dir alles erzählt?«
»Ich habe es von Jess.«
Scarpetta, die keine Ahnung hat, wer Jess ist, kann
nur den Kopf schütteln.
»Die Wirtin des Kick 'N Horse, Marinos
Motorradrocker-Kneipe. Bestimmt hat er den Laden dir gegenüber schon mal
erwähnt. Jedenfalls hat Jess mich angerufen, weil sie sich wegen des billigen
Flittchens Sorgen um ihn macht. Sie befürchtet, er könnte jetzt völlig
ausflippen. Jess meint, sie hätte ihn noch nie so erlebt.«
»Woher kennt Dr. Seif denn Marinos E-Mail-Adresse,
falls er sie ihr nicht selbst gegeben hat?«, wundert sich Scarpetta.
»Seit er in Florida ihr Patient war, hat sie ihre
private Adresse nicht geändert. Er schon. Also können wir ziemlich sicher sein,
wer wem zuerst geschrieben hat. Natürlich kann ich das noch genauer nachprüfen.
Ich kenne zwar das Passwort für sein privates E-Mail-Konto zu Hause nicht, doch
von solchen Kleinigkeiten habe ich mich schließlich noch nie abhalten lassen.
Ich müsste nur ...«
»Ich weiß, was du meinst.«
»... tatsächlichen Zugriff auf das Gerät selbst
haben.«
»Das ist mir klar, und ich möchte nicht, dass du so
etwas tust. Lass es uns nicht noch schlimmer machen.«
»Wenigstens sind einige E-Mails, die er von ihr
bekommen hat, hier auf seinem Bürocomputer, wo alle sie sehen können«, erwidert
Lucy.
»Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Aber natürlich: Du sollst dich ärgern und
eifersüchtig werden. Rache.«
»Und du hast bemerkt, dass sie auf seinem Rechner
waren, weil ...?«
»Ach, wegen des kleinen Notfalls von gestern Abend.
Er rief mich an und meinte, er habe eine Fehlermeldung erhalten: Der Kühlschrank
funktioniere nicht richtig. Da er zu weit weg vom Büro sei, bat er mich, nach
dem Rechten zu sehen. Falls ich die Sicherheitsfirma verständigen müsse, könne
ich die Nummer auf der Liste an der Wand finden.«
»Eine Fehlermeldung?«, fragt Scarpetta erstaunt. »Mich
hat niemand informiert.«
»Weil es keine gab. Als ich ankam, war alles
bestens. Dem Kühlschrank ging es prima. Also bin ich in sein Büro, um mir die
Nummer der Sicherheitsfirma zu holen und mich zu vergewissern, dass wirklich
alles in Ordnung ist. Und dreimal darfst du raten, was auf seinem Computer zu
sehen war.«
»Das ist doch albern. Er führt sich auf wie
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